Mietzinsniveau, Eruierung des Sanierungsbedarfs, übertriebene Nachfrage in einer langandauernden Tiefzinsphase, meistens überzahlt, mangelhaft unterhalten – das fällt dem Immobilienexperten als Erstes ein, wenn er an das Thema «Mehrfamilienhaus und Schätzung» denkt. Zoom fühlt ihm den Bewerterpuls und will wissen, was sich rund um den Wert des Mehrfamilienhauses dreht, das per Definition ein Gebäude mit mindestens vier Wohneinheiten ist und in der modernen Bewertungslehre als Finanzprodukt verstanden wird.

Andreas Thiemann, wo liegen die grössten Herausforderungen, wenn es um die Schätzung eines MFH geht?

Einer der zentralen Punkte bei der Bewertung eines MFH ist die exakte Vorgehensweise. Und darin liegt auch gleich die grösste Herausforderung.

Und, wie gehe ich exakt vor?

Grundsätzlich sind das sieben Schritte.
Analyse der Mietzinse: Beurteilung des Mietzinsniveaus zum Referenzsatz (Senkungs- bzw. Erhöhungsanspruch?), Vergleich der Quadratmeterpreise zu neuwertig gedachten Objekten (Quantilbandbreite), Festlegung der Mietwerte, Vergleich zum lokalen Markt, Abschätzen von Sensitivitäten der Mietzinse (was lässt sich etwa bei Komplettsanierung mietrechtlich auf den Mieter umlegen?);
Eruierung des Erneuerungsfonds: Analyse des Sanierungsbedarfes, Verlust am Nutzungspotenzial, sofort fälliger Renovationsbedarf, verwendete Materialien;
Analyse der Betriebskosten, Leerstände, Mietzinsverluste, häufige Mieterwechsel;
Festlegung des Zinssatzes für alle Berechnungen (WACC);
Wahl der Bewertungsmethodik (Substanzwert und ertragsorientierte Verfahren wie Barwert, DCF) nach Swiss Valuation Standard (SVS);
Nachvollziehbarkeit der Berechnungen für einen Dritten (z. B. Auftraggeber);
Berechnung von Kennzahlen und Plausibilisierungen: Stimmt die Marktanalyse? Woher stammen die Zahlen? Quellenangabe.

Welche Qualifikationen muss ein Bewerter sonst noch mitbringen, damit er ein MFH seriös schätzen kann?

Hilfreich und zielführend sind ein tieferes Verständnis der Finanzmathematik, speziell der Zinseszins- und Rentenrechnungen sowie der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge. Entscheidend sind ausserdem der tatkräftige Einsatz aller Sinne bei der Begehung der Liegenschaft – sehe ich die Vertikalrisse?, rieche ich die Feuchtigkeitsschäden im Keller? etc. – und ein paar Jahre Erfahrung in der Immobilien- und Baubranche.

Aus Ihrer Erfahrung – Was muss besonders beachtet werden?

Das beginnt damit, wer mir die Anlage zeigt. Gibt es zudem Teile, die ich als Schätzer sehen darf und andere nicht? Wichtig ist immer auch, bestehende Unterlagen mit der Liegenschaft abzugleichen. Da darf ruhig auch einmal ein Mieter gefragt werden, beispielsweise ob der Mietzins, den er bezahlt, mit jenem übereinstimmt, der auf dem Mieterspiegel ausgewiesen ist. Hauswarte sind zudem gute Informationsquellen wie auch der Nachbar, der gerade am Zaun steht. Solche informellen Hintergrundinformationen können bei der Beurteilung einer Liegenschaft sehr nützlich sein. Je nach Objekt und Informationen, die zur Verfügung stehen, lohnt sich ein Besuch beim lokalen Bauamtsverwalter. Gerade in ländlichen Gemeinden sind nicht alle Informationen via Internet abrufbar.

Was geht bei der Bewertung eines MFH gar nicht?

Dazu fallen mir vier Punkte ein: Ein erster Fauxpas ist, eine so genannte Pultschätzung zu erstellen, ohne die Liegenschaft selber vor Ort gesehen zu haben, und dies nicht zu deklarieren. In dieselbe Kategorie fällt das Gefälligkeitsgutachten, bei dem ein Marktwert den Wünschen des Auftraggebers entsprechend ausgewiesen wird. Ein weiteres Tabu ist, das Honorar der Expertise in % des Marktwertes festzulegen, und ein viertes, einen Bewertungsauftrag anzunehmen, der das eigene Fachwissen, die Erfahrung und Fähigkeiten übersteigt.

Woran erkenne ich als Besteller, dass es sich beim Bewertungsgutachten um ein seriöses Gutachten handelt?

Gute Frage, die voraussetzt, dass seriös und unseriös definiert sind. Mit meinen Kunden halte ich eine Art Gentlemen’s Agreement: Wenn ein Auftraggeber etwas nicht versteht, soll er mich kontaktieren. Gute Erfahrungen habe ich auch damit gemacht, den Bewertungsbericht Seite für Seite durchzugehen und zu erklären. Leider lässt sich das aus ökonomischen Gründen nicht allzu häufig durchführen.

Stichwort hedonische Modelle: Braucht es den Bewerter überhaupt noch?

Der Vorteil der sogenannten ökonometrischen Modelle, wie Sie sie ansprechen, liegt in der Geschwindigkeit zur Erstellung einer Bewertung und in der Exaktheit der Ergebnisse, speziell wenn viele Informationen/Daten vorliegen. Sie werden oft im Kreditwesen eingesetzt, zur Eruierung der möglichen Beleihungswerte für Standard-Einfamilienhäuser und Eigentumswohnungen. Für alle übrigen Objektkategorien braucht es weiterhin den klassischen Immobilienschätzer. Interessant wäre ja die Frage, wieweit die tägliche Arbeit des Bewerters von den ökonometrischen Modellen profitieren könnte und umgekehrt.

Und?

Das würde den Rahmen hier wohl sprengen. Wichtig ist: Die Immobilienbewertung ist keine exakte Wissenschaft. Die Berechnungen enthalten immer subjektive Elemente des Bewerters. Daran wird sich nichts ändern.

Weshalb mögen Sie es persönlich, MFH zu bewerten?

Die Arbeit ist spannend und anforderungsreich. Man ist auf unterschiedliche Art immer wieder gefordert.

Die Nachfrage nach Mehrfamilienhäusern ist seit Jahren ungebrochen. Entsprechend gestalten sich die Preise. In welchem Fall würden Sie einem Inte­ressenten heute noch empfehlen, eine Liegenschaft käuflich zu erwerben?

Wenn das Kurs-Gewinn-Verhältnis kleiner ist als 14.

Das hat Erklärungsbedarf …

Ja, sicher (lacht). Ich führe seit Jahren eine Statistik über alle geschätzten Rendite­liegenschaften. Interessant ist der Aspekt, wie sich Marktwert und Kaufpreis zum Nettomietzins verhalten. Ich nenne das «Kurs-Gewinn-Verlust» in Anlehnung an Warren Buffet, der empfiehlt, Aktien von topgeführten Unternehmen nur dann zu kaufen, wenn sich die P/E-Ratio in einem bestimmten Range bewegt. Betrachtet man nun in meiner Statistik verschiedene Zeitspannen, so liegt das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) der von 2001 bis 2007 bewerteten Mehrfamilienhäuser bei 6 bis 9. Der KGV der Immobilien, die zwischen 2008 und 2013 bewertet wurden, bei 10 bis 18 und jener von 2014 bis 2018 bei 24 bis 27. Ich meine, wenn der Nettozinssatz mehr als 14-mal im Marktwert resp. Kaufpreis enthalten ist, sollte man auf den Kauf einer Immobilie verzichten.

Gut also, wer in den Jahren vor 2013 gekauft hat … Kommen wir damit
zur letzten Frage. Wie denken Sie, werden Mehrfamilienhäuser in Zukunft geschätzt werden?

Joker. Die nächste Frage, bitte…

Andreas Thiemann

Notar, Grundbuchverwalter, Finanzberater, Bewertungsexperte und Inhaber der Thiemann HypoServices AG, Muri AG; SIV-Mitglied (ehem. Vizepräsident) und beim SEK/SVIT für die PR verantwortlich.

  1. Weighted Average Cost of Capital steht für den Anteil und die Kosten der Fremd- bzw. Eigenmittel. 
  2. Die Price-Earning Ratio, oder P/E-Ratio, ist eine ökonomische Kennzahl zur Beurteilung von Aktien. Sie setzt die Dividende in Bezug zum Aktienkurs. Gemäss Warren Buffet ist ein Kauf dann interessant, wenn der Wert zwischen 4 und 8 liegt. Das wäre beispielsweise bei einer Aktie mit Kurs CHF 1000, deren Dividende bei CHF 180 liegt, der Fall.