Im November 2022 lancierte das US-Unternehmen OpenAI die Testversion von ChatGPT – einem sogenannten Chatbot, der Fragen beantwortet oder Texte zu beliebigen Themen verfasst. Das Tool basiert auf künstlicher Intelligenz (KI) – oder Artifical Intelligence (AI), wie sie im angelsächsischen Raum genannt wird – und demonstriert einem breiten Publikum, was mit der Technologie alles möglich ist. Seit dem Start von ChatGPT sind KI-Tools in aller Munde. Fast täglich tauchen neue Anwendungen auf.

KI ist in der Bewertung nichts Neues

Auch im Bereich der Immobilienbewertung ist KI ein grosses Thema. Eingesetzt wird sie nicht nur für die Bewertung von Liegenschaften direkt, sondern auch bei der Beschaffung von Daten: «KI-basierte Tools können zum Beispiel Grundbuchauszüge, Fotos oder Immobilieninserate automatisch auswerten», sagt Jacqueline Schweizer, Partnerin bei Wüest ­Partner. Damit lasse sich die Datenmenge und Datenqualität für Bewertungstools er­­höhen. Wüest Partner nutzt KI bereits seit mehr als zehn Jahren. Nicht nur zur Datenbeschaffung, sondern, je nach Anwendungsgebiet, in Kombination mit hedonischen Modellen auch für die Ermittlung von Immobilienpreisen. «­Solche Hybridansätze sind aus meiner Sicht das Optimum, denn sie nutzen die Vorteile beider Modelle», sagt Schweizer.
 
Andere bekannte Bewertungs­unternehmen wie etwa IAZI gehen ähnliche Wege (siehe Interview Seite 14). Kein Thema sind KI-basierte Tools aktuell bei Bewertungen, die regulatorischen Vorgaben genügen müssen – etwa im Hypothekargeschäft. «Hier sind die klassischen hedonischen Bewertungen nach wie vor erste Wahl», sagt Schweizer. Wobei: Streng genommen zählen hedonische Modelle bereits zur künstlichen Intelligenz. Sie werden aber oft nicht als solche wahrgenommen. Denn KI ist – unabhängig von der Komplexität – ein Überbegriff für alle regelbasierten Computermodelle (siehe Grafik Seite 09). Dazu gehört auch das «Machine Learning», also Methoden, die Statistiken mithilfe von Algorithmen auswerten – wie eben die hedonischen Modelle. So gesehen kommt KI in der Bewertungsbranche schon lange zum Einsatz.

Was hingegen aktuell landläufig als KI bezeichnet wird, sind in der Regel Tools aus dem Bereich des sogenannten Deep Learning. Systeme also, bei denen Computer trainiert werden, eine grosse Zahl an Daten zueinander in Beziehung zu setzen, Zusammenhänge zu erkennen und diese dann für andere Aufgaben zu verwenden – die derzeit bekannteste Anwendung ist ChatGPT.

Vorreiter bezüglich Deep Learning im Immobilienbereich sind vor allem Unternehmen in den USA, China und ­Australien, wie etwa Truly oder ­PropertyAI. Unterdessen gibt es aber auch diverse Anbieter in Europa. Deren Geschäftsmodell unterscheidet sich von jenem der alteingesessenen grossen Bewertungsunternehmen – und zwar nicht nur bei den Tools für die Preis­ermittlung, sondern auch bei den angebotenen Produkten und den Zielgruppen. Die neuen Unternehmen bieten in der Regel einerseits eine auf ­KI-Tools basierende Ermittlung von Immobilienpreisen an, andererseits auch eine ganze Palette zusätzlicher Dienstleistungen rund um den Kauf, Verkauf oder die Finanzierung von Immobilien.

Zu den Playern auf dem hiesigen Markt gehört beispielsweise Immosparrow, ein Tochterunternehmen der Avobis-Gruppe, das bereits 2018 mit der Nutzung von KI für die Bewertung von Immobilien begonnen hat. Weitere Anbieter hierzulande sind Pricehubble oder Neho – wobei Letztere nicht mit eigenen Tools, sondern mit dem von Pricehubble arbeitet. Schaut man genauer hin, zeigen sich Gemeinsamkeiten: Angeboten werden die KI-basierten Tools meist nur für Wohnimmobilien. Zielgruppe sind in der Regel Makler, Immobilienentwickler, Generalunternehmer oder Architekten.

«KI-basierte Tools können Grundbuchauszüge, Fotos oder Immobilieninserate automatisch auswerten.»

Die Anbieter sind relativ neu auf dem Markt. Sie wurden zum Teil eigens gegründet, um auf KI basierende Immobiliendienstleistungen zu vertreiben. Diese Gemeinsamkeiten kommen nicht von ungefähr: Wohnimmobilien bilden aufgrund des Volumens den grössten Markt und eine Vielzahl von ­Playern benötigt Daten, um beispielsweise Miet- oder Kaufpreise für Inserate oder geplante Projekte festlegen zu können. Zudem ist die Preisbildung bei Wohnimmobilien von einer Vielzahl an Faktoren geprägt, die auf gut verfügbaren Daten basieren und sich mit Algorithmen erfassen sowie nutzen lassen. Bei Geschäftsimmobilien hingegen spielen die Branche sowie mögliche Erträge und die Auswirkungen von Investitionen in die Zukunft eine grosse Rolle – Punkte, die sich nur bedingt mit KI-Modellen beurteilen lassen. Hier ­kommen in der Regel bewährte Ertragswert- und DCF-Berechnungen zum Einsatz. Sie sind in der Branche weitherum anerkannt und liefern rechnerisch klar nachvollziehbare Resultate.

Dass vor allem neue Player auf dem KI-Bewertungsmarkt tätig sind, könnte damit zusammenhängen, dass es für die neuen Bewertungsinstrumente nur eine untergeordnete Rolle spielt, ob es sich um Immobilien oder ein anderes Handelsprodukt handelt. Daher können auch Daten- und KI-Spezialisten aus anderen Bereichen Tools entwickeln. «Schlussendlich geht es in jedem Bereich darum, ein automatisiertes Preisschätzungsmodell zu finden, das realitätsnahe Resultate liefert», sagt Daniel Dutli, Data-Machine-Learning ­Engineer bei Immosparrow in Zürich.

Modelle brauchen Training

Um zu verstehen, was KI-basierte Tools bieten, welchen Stellenwert sie für die Immobilienbewertung bekommen könnten und wie sie sich von den altbewährten hedonischen Modellen unterscheiden, muss man ihre Funktionsweise detaillierter verstehen. Die KI-basierten Tools setzen auf grosse Datenmengen und eine Vielzahl von Parametern, die weit über die Liegenschaft und deren Eckdaten hinausgehen, die bei hedonischen Modellen die Grundlage bilden. So werden etwa auch Fotos oder Aufnahmen aus Google Street View ausgewertet. KI-Tools können daraus ebenfalls Informationen extrahieren – etwa zur Geschosszahl, zu Balkonen oder zur Bauepoche. Alle diese Daten werden mit den Angebots­preisen und Eckdaten von Liegenschaften aus schweizweiten Immobilieninseraten – also Angebotspreisen – überlagert. Mithilfe sogenannter neuronaler Netze sucht die Software anschliessend nach Mustern und Verbindungen. Also beispielsweise, welcher Zusammenhang zwischen der Taktfrequenz einer S-Bahn-Station, der Anzahl Geschosse eines Gebäudes, der Bau­epoche der Liegenschaft und den inserierten Immobilienpreisen besteht.

«Wie bei anderen Modellen auch, sind Konsistenz und Kontinuität das A und O für die Akzeptanz.»

Fachleute sprechen bei der Suche nach diesen Mustern und den passendsten Algorithmen auch von «Training». «Vereinfacht gesagt suchen wir nach derjenigen mathematischen Funktion, die aus den Daten einen Wert errechnet, der möglichst nahe an der Realität liegt», sagt Dutli von Immosparrow. Um zu prüfen, ob der Algorithmus funktioniert, werden die vom KI-System errechneten Preise mit Werten aus Inseraten verglichen, deren Daten nicht als Basis ins Tool eingeflossen sind. Ebenso wichtig wie die Präzision der Bewertung sollen Algorithmen über die Zeit hinweg nicht zu schnell und zu stark auf Veränderungen einzelner Parameter reagieren: «Wie bei anderen Bewertungsmodellen auch, sind Konsistenz und Kontinuität das A und O für die Akzeptanz», sagt Jacqueline Schweizer von Wüest Partner.

Für die Datenbeschaffung, das Training und die Überprüfung der KI-Tools muss viel Aufwand betrieben werden und es braucht spezialisierte Fachkräfte. «Einen KI-Algorithmus zu programmieren ist nicht besonders schwierig, aber ein gutes, verlässliches und stabiles Modell zu trainieren, muss man nicht nur technisch beherrschen, sondern es braucht insbesondere auch fachliches Knowhow», sagt Schweizer.

Der Mensch hat nicht ­ausgedient

Aktuell versuchen zahlreiche Start-ups im Bereich der KI-Immobilienbewertung Fuss zu fassen. Ob alle das erforderliche immobilienspezifische Wissen sowie den Zugang zu hochwertigen Grundlagen-­daten haben und ob sie die notwendige Qualität für die Bewertung liefern können, ist unklar. Klar ist hingegen, wie die Tools eingesetzt werden. Das zeigt ein Blick auf den Markt: Die Nutzung hängt vor allem von der Kundengruppe und deren Ansprüchen ab. Dort, wo Makler und Privat­personen nur ein Preisband für die Vermietung beziehungsweise den Verkauf oder Informationen zum Umfeld des Gebäudestandorts suchen, haben die KI-basierten Tools der neueren Anbieter auf dem Markt die Nase vorn. Dort hingegen, wo Finanz­unternehmen ihre Investitionen oder Hypothekar­kredite absichern wollen, sind die von den Finanzregu­latoren anerkannten hedonischen Ins­trumente Usus. Und wo spezielles Fachwissen sowie Erfahrung gefragt sind, kommen weiterhin klassische Bewerter zum Einsatz: «Wir wollen weder das hedonische Modell ab­lösen noch die klassischen Bewerter konkurrenzieren, sondern einen unabhängigen und fundierten ­dritten Weg anbieten», bringt es Daniel Dutli von Immosparrow auf den Punkt

Einordung der KI-Varianten