Im politischen Vokabular trat der Begriff Nachhaltigkeit erstmals nach der Ölkrise in den 1970er-Jahren aufs Parkett, als man sich zunehmend über die Folgen einer allfälligen Energieknappheit bewusst wurde. Dass die Nachhaltigkeit unser ganzes Leben betrifft, ist längst bekannt. Die Immobilien bilden keine Ausnahme. 

Immobilien sind langfristige Investitionen, deren Rendite und Risiken von grundlegender Bedeutung sind. Der Wert einer Immobilie hängt von verschiedenen Faktoren ab wie Wirtschaftslage, Demografie, schwankende Energiepreise, Naturereignisse, deren Entwicklung und Ausprägung einmal Chance, einmal Risiko sind. Ein Blick auf den Tessiner wie auch den Schweizer Immobilienbestand zeigt: Wir haben zahlreiche alte Gebäude. Gebäude notabene, die nicht oder noch nicht auf ihre Nachhaltigkeit angeschaut wurden. Exakt hier besteht dringender Handlungsbedarf. Denn es gilt, deren effektive Nachhaltigkeit abzuklären, zu quantifizieren und die Folgen abzuschätzen.

Eine nachhaltige Immobilie ist ein Gebäude, das sich an die Folgen langfristiger Entwicklungen problemlos anpassen kann. Im Hinblick auf Risiken und Chancen muss die Liegenschaft die Gefahr eines Wertverlusts minimieren respektive Profitchancen steigern können.

Auf die Normen und Richtlinien, fertig, los

Für die Qualifizierung nachhaltiger Immobilien steht eine ganze Reihe von Normen, Leitfäden, Richtlinien, Zertifizierungen, Labels und Kategorisierungen zur Verfügung, welche die Zielsetzungen festlegen, regeln, kontrollieren und messen. Allen voran die SIA 112/1. Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA hat bereits 2004 als Ergänzung zum Leistungsmodell mit dieser Norm einen ausschliesslich dem nachhaltigen Bauen gewidmeten Leitfaden veröffentlichte, der später überarbeitet und 2017 durch eine Neuausgabe in der Form einer «Verständigungsnorm» ersetzt wurde. 

Weiter gibt es den SNBS, Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz, das Minergie-Label, das für Komfort, Effizienz und Werterhalt steht, das Bewertungssystem BREEAM (Building Research Establishment Environmental Assessment Methodology), das die ökologischen und soziokulturellen Aspekte der Gebäude nachhaltigkeit fokussiert, der ESI (Economic Sustainability Indicator), das Ratingsystem für die finanzielle Nachhaltigkeit von Bauten, der GEAK, der Gebäudeenergieausweis der Kantone zur Beurteilung des effektiven energetischen Zustands von Gebäuden, der GRESB (Globale Real Estate Sustainability Benchmark) als Ratingsystem für die umfassende Bewertung von Immobilien und Immobilien-Portfolios anhand sämtlicher ESG-Kriterien (Environment Social Governance). 

Auch LEED (Leadership in Energy and Environmental Design) als Label für nachhaltiges Bauen ist relevant, genauso wie es die MuKEn sind, die Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich als umfassendes Komplettpaket von Energienormen für das Baugewerbe oder der NUWEL-Leitfaden. Die fünf Buchstaben stehen für Nachhaltigkeit und Wertermittlung von Immobilien. Der Leitfaden, herausgegeben vom Center for Corporate Responsibility and Sustainability der Universität Zürich (CCRS), ist das Ergebnis einer erfolgreichen trinationalen Zusammenarbeit im Kontext von Nachhaltigkeit und Immobilienbewertung. Daneben gibt es die SGNI, die Schweizer Gesellschaft für Nachhaltige Immobilienwirtschaft, die sich – basierend auf dem deutschen Vorbild – ebenfalls das nachhaltige Bauen auf die Fahne geschrieben hat, sowie das Merkblatt SIA-Effizienzpfad Energie (SIA 2040), das eine Anleitung ist für einen umfassenden energietechnischen Ansatz unter Einbezug der Themen Energie für Unternehmen, graue Energie, lokale Mobilität und Umsetzung der 2000-Watt-Gesellschaft.

Die Relevanz der Analyse

Für die Immobilienbewertung heisst das, dass die Gefahren ermittelt werden genauso wie die Folgen, die dazu führen könnten, dass eine Immobilie die Anforderungen ihrer Zeit und des Marktes nicht mehr erfüllt. Dazu gehören die Bestimmung der Nachhaltigkeitsmerkmale sowie die anschliessende Quantifizierung unter finanziellen Gesichtspunkten. Auch bei der Marktanalyse von nachhaltigen Immobilien müssen Nachfrageentwicklung und Kaufbereitschaft für nachhaltige Immobilien beurteilt werden. Mit anderen Worten: Es braucht eine fundierte Analyse, um Nachhaltigkeitskriterien in einer Bewertung zu berücksichtigen, damit das Risiko auf ein Minimum beschränkt und möglich eingeschätzt werden können.

Der Swiss Valuation Standard (SVS) ist eine Norm für die Immobilienbewertung, die von allen massgeblichen Immobilienfachverbänden und Schweizer Hochschulen übernommen wurde. Bereits in ihrer zweiten Ausgabe 2012 werden die Nachhaltigkeit und der Begriff der nachhaltigen Entwicklung erwähnt, wie sie von der Weltkommis­sion für Umwelt und Entwicklung 1987 definiert wurde: «Eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können». Zum ­Thema Wertermittlung beruft sich der SVS ausdrücklich auf den erwähnten NUWEL-Leitfaden. Die im 2017 überarbeitete und erweiterte dritte SVS-Ausgabe räumt der Nachhaltigkeit noch mehr Platz ein und bestätigt so, dass «Nachhaltigkeit und die entsprechenden Kriterien in der Immobilienbranche weitgehend etabliert sind …».

Transparenz und Klarheit als Voraussetzung

Gemäss NUWEL-Leitfaden gilt es, bei der Immobilienbewertung erst diejenigen Nachhaltigkeitsmerkmale zu ermitteln, die für die Immobilie wertbestimmend und für die Risiken relevant sind. Anschliessend müssen die Nachhaltigkeitsmerkmale und -eigenschaften in die Wertberechnung und Risikoanalyse einfliessen (wobei sie zweckmässig zu berücksichtigen sind – es gilt jedoch, mindestens die wertbestimmenden Kriterien einzubeziehen). Schliesslich werden die sich ­daraus ergebenden Auswirkungen in die etablierte Berechnungsmethodik sowie Risikoanalyse integriert.

Der NUWEL-Leitfaden stellt für die Bewertung eine in die Hauptthemen Standort, Grundstück, Gebäude und ­Prozesse gegliederte Nachhaltigkeitscheckliste sowie einen ausführ­lichen Anhang mit Nachträgen zur Verfügung. Nun liegt es am Immobilienbewerter, unter Verwendung der passenden Instrumente den Einfluss der Nachhaltigkeitsmerkmale auf den Immobilienwert zu beurteilen. Dabei muss er stets klar und transparent erläutern, welcher Art und Bedeutung die berücksichtigten Nachhaltigkeitseigenschaften sind.