Wann dachten Sie zuletzt: Wow, das ist ja extrem?

Mirjam Oegerli: Ich war extrem beeindruckt davon, wie gut wir in unseren Projektteams die durch Covid veränderten Umstände gemeistert haben. Dank Onlinesitzungen wurden wir gar noch effizienter. Neue Projekte aufzugleisen gestaltete sich aber herausfordernder. Hier fehlte der direkte menschliche Kontakt.

Ilaria Roveda: Mit der Pandemie mussten wir wirklich eine Menge Gewohnheiten und Überzeugungen ändern. Noch heute gibt es keine sichere Per­spektive. In unserem Bereich als Bewerter sind wir konfrontiert mit einer völlig neuen Situation. Alle Sektoren des Immobilienmarktes sind betroffen.

Yves Cachemaille: Diesen Sommer haben mich die Unwetter beeindruckt, die vor allem in der West- und Zentralschweiz zahlreiche Naturkatastrophen verursachten. Viele Gebiete waren betroffen, durch die ich schon oft gefahren bin. Mir wurde bewusst, dass wir verwundbar und gegenüber solchen Ereignissen auch ziemlich machtlos sind.

Yves Cachemaille: Wie sehen Sie die Entwicklungen in der Immobilienbranche in der Westschweiz?

Die Preise von Anlageimmobilien bleiben weiterhin auf hohem Niveau. Die Bereiche Einfamilienhäuser und Stockwerkeigentum stagnierten während der Gesundheitskrise, erholten sich jedoch schnell wieder. Die Preise steigen zurzeit leicht an, wobei die Nachfrage nach stadtnahen ländlichen Standorten deutlich zunimmt. Gleichzeitig verzeichneten wir natürlich einen sehr geringen Mieterwechsel, der seit Anfang 2021 jedoch durch viele Wechsel bei den Wohnungsmietern wieder aufgefangen wird.

Und welche Entwicklungen ­beobachten Sie im Tessin und in der Deutschschweiz, Ilaria Roveda und Mirjam Oegerli?

Ilaria Roveda: Im Tessin profitierten wir davon, dass mehr Schweizerinnen und Schweizer im Inland Ferien machten. Im Wohnungssektor sehen wir seit dem Lockdown eine grössere Nachfrage nach grösseren Wohneinheiten, gerne mit einer Grünfläche. Ansonsten verlaufen die Entwicklungen ähnlich wie in der ganzen Schweiz. Der Bürosektor war nach der Einführung der Homeofficepflicht stark betroffen. Auf der anderen Seite ist seit der Pandemie beim Logistik- und Lagersektor eine steigende Nachfrage zu verzeichnen, was auf die starke Zunahme des Onlineshoppings zurückzuführen ist.

Mirjam Oegerli: Die Situation mit den tiefen Zinsen ist für uns im Raum Zürich auf vielen Ebenen herausfordernd. Wir beobachten sie genau, bilden uns ständig weiter und tauschen uns mit anderen Expertinnen und Experten aus. Der SIV ist hierbei eine wertvolle Unterstützung, weil er bei der Vernetzung hilft und Ressourcen bereitstellt.

Welche Entwicklung lösen die tiefen Zinsen für Kredite und Negativzinsen für Kapital in der Westschweiz und im Tessin aus?

Yves Cachemaille: Die Preise von Anlageimmobilien sind stark unter Druck. Die extrem niedrigen Zinsen, die bisher nur in Genf zu beobachten waren, weiten sich tendenziell auf andere, weniger attraktive Regionen der Westschweiz aus. Es macht den Anschein, als ob der Standort bei der Entscheidungsfindung immer weniger berücksichtigt und die kurzfristige Rendite zum einzigen Argument werden, was langfristig ein grosses Risiko darstellen kann.

Ilaria Roveda: Die tiefen Zinsen für Kredite haben im Tessin den Erwerb von Immobilien sowohl für Privatpersonen als auch für Investoren erleichtert. Und das geht wohl noch so weiter: Derzeit deutet nichts hin auf eine Änderung der Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank.

Was beschäftigt Sie zurzeit am ­meisten, Ilaria Roveda?

In Zeiten des Wandels muss man in der Lage sein, die positive Seite des Wandels zu sehen. Herausforderungen sind sicher neue Raumgestaltungskonzepte und Bautechniken, die auf eine «grüne» Perspektive ausgerichtet sind.

Und wo sehen Sie die Herausforderungen, Yves Cachemaille?

Der Bewerter ist per Definition ein Marktbeobachter. Er ist es gewohnt, solche Entwicklungen schnell miteinzubeziehen. In den letzten Monaten haben allerdings zahlreiche Paradigmenwechsel stattgefunden, sowohl bei der Wohn- und Arbeitssituation als auch beim Konsumverhalten. Unsere grosse Herausforderung besteht darin, all diese Entwicklungen zu antizipieren – von denen einige möglicherweise nicht von Dauer sind –, damit unsere Werte immer gleich relevant bleiben.

Mirjam Oegerli, welche Veränderungen in Beruf und Gesellschaft ­beschäftigen Sie?

Beruflich positiv sehe ich, dass sich das Immobilienportfoliomanagement in öffentlichen Verwaltungen immer stärker etabliert – auch gegenüber den Nutzern, der Öffentlichkeit und der Politik. Ich beobachte die gesellschaftlichen Entwicklungen. Für viele Menschen ist das Auskommen schwierig, obwohl sie Vollzeit arbeiten und haushälterisch wirtschaften. Zudem stimmt mich nachdenklich, dass die als typisch schweizerisch geltende Kompromissbereitschaft zu schwinden scheint. Extreme Meinungen und fehlende Dialogbereitschaft spalten die Gesellschaft.

Mirjam Oegerli

Die erfahrene Portfoliomanagerin und Schätzerin Mirjam Oegerli betreut
heute mit ihrer Firma WERTLABOR GmbH, Zürich, vorwiegend Immobilien der öffentlichen Hand.

Ilaria Roveda

Die Tessinerin Ilaria Roveda ist Partner bei P&M Real Estate SA in Lugano und lehrt als Dozentin an der SUPSI – Scuola Universitaria Professionale Svizzera Italiana.

Yves Cachemaille

Yves Cachemaille ist Senior Director und Head of Valuation and Advisory bei CBRE Switzerland in Lausanne. Die CBRE ist schweizweit mit sieben Büros im Immobiliensektor tätig.