An die effekthascherischen Schlag­zeilen «Wertverlust von 15 Milliarden» in den Zeitungen vermag sich bestenfalls die St.Galler Firma Stritt­matter Partner zu erinnern, die mit ihrem sogenannten Gutachten, das die Tagespresse am 21. Oktober 2004 breit auswalzte, solchen Wirbel auslöste. Die allgemeine Hysterie bescherte dem einfachen Bewerter gar einen – hoffent­lich beruhigenden! – Auftritt in der Sendung «Schweiz aktuell» des Schweizer Fernsehens. Was war geschehen?
Das bisherige Flugregime auf den Flughafen Zürich wurde im Okto­ber 2003 geändert und brachte eine Neuerung: den Südanflug. Mit Ziel ­Piste 34 führt er über die Höhen­züge des Pfannenstils und die höchstpreisigen Wohngemeinden der Goldküste am Zürichsee über das Quartier Schwamendingen der Stadt Zürich und die Stadt Opfikon-Glattbrugg Richtung Flughafen Zürich. In der Folge stieg die Anzahl der Rechtsfälle, in denen sich betroffen fühlende Grundeigentümer mit Minderwertentschädigungsklagen an die Gerichte wandten, auf über zehntausend, gütig gefördert durch sammelklageähnliches Vorgehen gewisser Anwälte.

Entschädigungen für ­Wertverlust, wo keiner ist

Das Bundesgericht, bei dem die Verfahren nach und nach angelangten, verbarrikadierte sich hinter einem eigens für diesen Prozess-Tsunami entwickelten hedonischen «Minderwert-Modell Fluglärm» und seiner ­eigentümlichen «allgemeinen Lebenserfahrung». Dank dieser, folgerte es, könne im Entschädigungsverfahren «vom Eigentümer nicht verlangt werden, dass er den nach der übermässigen Lärmbelastung eingetretenen Wertverlust seiner Liegenschaft ­konkret belege» (Entscheid 1E.9/2007, E.12). Und erteilte Minderwertentschädigungen ohne Wertverluste seinen Segen. Auch dann, wenn die betroffene Liegenschaft aufgrund der effektiven Cashflows in den Jahren vor dem Bewertungsstichtag an Marktwert gewonnen hatte.

Nichts begriffen

Nicht nur einfache Bewerter meinten damals, sich verlesen zu haben. Auch in der Politik wurden verschiedenen Ortes die Köpfe geschüttelt. Schon zuvor hatten hauptsächlich Vertreter der Hauseigentümerverbände versucht, den Umstand, dass die Entscheidungsfindung bezüglich dieser Rechtsfälle das Bundesgericht zu einer Art Ersatzgesetzgeber werden liess, zu beeinflussen. Das führte im Ständerat 2008 schliesslich zur Annahme einer Motion (08.3240). Diese bezog sich auf die stark kritisierte Rechtslage bei Entschädigungsbegehren für lärmbedingte Minderwerte von Immobilien. Für Bewerter war nebst der treuherzigen Lebenserfahrungserwägung des Bundesgerichts einer der unverständlichsten Punkte des Entscheides, dass die Richter nicht begriffen hatten, dass Fluglärm ein temporäres Phänomen ist und entsprechend keine Entschädigung infrage kommen sollte, die von einer für immer und ewig dauernden Einwirkung ausgeht. Fachgerecht wäre es, den nicht konstant anfallenden Minderwert durch periodisch festzulegende Entschädigungen auszugleichen.

Die schon im Vorfeld der Motion zusammengerufenen Experten krempelten die Ärmel hoch und hielten die Köpfe schief. Es resultierte schliesslich ein kluger Vorschlag, zuerst spezialgesetzliche Ausgleichsnorm SAN genannt, der im Kern statt der unsachgemässen Einmalzahlung eine periodische Entschädigung von übermässig lärmgeplagten Grundstückeigentümern vorsah, also eine echte Verbesserung und Korrektur eines Denkfehlers war.
2008 haben wir an dieser Stelle darüber berichtet und versprochen, auf das Thema zurückzukommen. Als treuer Leser des Prüfsofas hatten Sie in den letzten zehn Jahren von Nummer zu Nummer die Hoffnung auf Antwort gehegt und blieben lange enttäuscht. Das Versprechen wird heute endlich eingelöst.

Die Komplexität blieb – bis zur Beisetzung

Was geschah in all den Jahren bis heute? Nun, der übliche eidgenössische Parlaments- und Verwaltungsbetrieb mit der ihm eigenen Gemütlichkeit werkelte weiter an der SAN, die nach einer Überarbeitung, wieder mithilfe externer Unterstützung, in Lärmausgleichsnorm LAN umgetauft und schliesslich 2014 den Kantonen zu einer nicht öffentlichen Vorkonsultation zugestellt wurde. Das heisst, dass zum Beispiel kantonale Sesselrutscher in Appenzell, Glarus oder Engelberg die Daumen heben oder senken mussten zu einem doch recht komplexen Thema und einem Problem, das sie typischerweise überhaupt nicht betrifft und es folglich auch höchstens als Zeitungsleser kennen. Damit war eigentlich das Ende eingeläutet. Die Kantone fanden LAN mehrheitlich «administrativ zu aufwendig». Zwar wurde noch ein vereinfachtes LAN light erarbeitet, ja gar noch ein Entschädigungsmodell ENA plus. Doch: alles vergebens. Die Schweizer Schätzerwelt hat sich nach dem Prüfsofa 2008 zu früh und schliesslich vergebens gefreut.

Die Anreizwirkung zur Lärmreduktion, die durch die periodischen Ausgleichszahlungen im Modell LAN geschaffen worden wären, wurden schliesslich von den zuständigen Kommissionen des National- und Stände­rates zwar grundsätzlich positiv gewürdigt; aber ach, die Damen und Herren befanden das System insgesamt für zu kompliziert. Oder überstieg es die Leistungskraft ihrer Hirnwindungen? Ja, die Lausanner Richter brauchen schliesslich auch Arbeit. Die Beisetzung von LAN fand in der Winter­session 2018 im Bundeshaus statt.
Ruhe sanft, gute Idee.

PS: Anstelle von Kondolenzschreiben gedenke man des Heims «Abendrot» für denkschwache Alt-Politiker (bitte Vermerk «Erweiterungsbau» ­anbrin­gen).

Martin Frei

MSc ETH in Architektur/SIA, MAS ETH in Management, Technology and Economics/BWI, Zürich.