1,3
Meter pro Jahr

21
Mio. m³ Material

Die Brienzer Terrasse bewegt sich derzeit so schnell wie noch nie talwärts: über 1,3 Meter pro Jahr. Gleichzeitig schiebt sich der Berg rund acht Meter pro Jahr dem Dorf entgegen. Das löst Steinschläge aus. Beim Besuch vor Ort wird die Strasse nach Lenzerheide wegen Steinschlags automatisch gesperrt. Christian Gartmann, Sprecher der Gemeinde ­Albula/Alvra, zu der Brienz/Brinzauls gehört, beobachtet die nach unten rollenden Steine und sagt: «Der Steinschlag wirkt auf mich immer wieder bedrohlich, obwohl er täglich vorkommt». Manchmal rollen tonnenschwere Steinklötze auf die Wiese hinter das Dorf. Die Situation ist beklemmend. Käme der ganze Berg oberhalb des Dorfes ins Rutschen, wären das bis zu 21 Millionen Kubikmeter Material, was einem Volumen von rund 21 000 Einfamilienhäusern entspräche und einer Katastrophe gleichkäme. «Man weiss schon lange, dass das Dorf auf einer Platte rutscht. Allerdings ist nicht klar, weshalb sich der Hang seit ein paar Jahren so stark bewegt», sagt Gartmann.

Baustopp für das ganze Dorf

Wegen der Rutschung erliess die Gemeinde 2017 eine Planungszone. Seither dürfen im Dorf keine neuen Häuser mehr gebaut werden. Bis jetzt sind drei Totalschäden zu verzeichnen. Ein Wohnhaus und ein Stall mussten abgerissen werden. Ein Autounterstand droht bald einzustürzen. Vereinzelt sieht man Risse an den Gebäuden oder schräg stehende Terrassen. Die Bevölkerung reagiert unterschiedlich auf die Bedrohung. Christian Gartmann: «Einige akzeptieren ihr Schicksal, aus Demut vor dem Berg. Andere klagen, man lasse sie im Stich und unternehme zu wenig gegen die Gefahr.» Trotz der Bedrohung zieht fast niemand weg. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Liegenschaften kaum mehr verkauft werden können.

Ersatz bei Totalverlust des Hauses

Verlieren Eigentümer ihr Haus in Brienz wegen der Rutschungsschäden, greift seit 2020 der Versicherungsschutz. Die Gebäudeversicherung Graubünden zahlt, wenn sie einen Totalschaden feststellt und die Liegenschaft abgerissen wird. Die Versicherung übernimmt in diesem Fall den Neuwert des Hauses und ermöglicht so den Bau eines gleichwertigen Hauses an einem anderen Ort im Kanton Graubünden. Für den Kauf des Baulandes kann die Versicherung nicht aufkommen, weil Bauland nie versichert ist. Die Regelung sagt: Entscheiden sich die Hausbesitzer innert drei Jahren nach dem Totalschaden nicht für einen Neubau andernorts, erstattet die Versicherung den Schaden zum Zeitwert des verlorenen Hauses. Je nach Alter und Instandhaltung der Liegenschaft entspricht dies rund 50 bis 100 Prozent des Neuwertes (siehe Kasten Versicherungssonderregelung). Markus Feltscher, Direktor der Gebäudever­sicherung Graubünden, rechnet die Kosten vor. Sie beliefen sich auf maximal CHF 70 Millionen, falls das ganze Dorf Brienz aufgegeben werden müsste, erklärt Feltscher. Die Gemeinde arbeitet vorsorglich an einer Umsiedlungsstudie. Sie hat bereits Bauland für eine allfällige Umsiedlung identifiziert.

Der Steinschlag wirkt auf mich immer wieder bedrohlich, obwohl er täglich vorkommt.

Monitoring und offene ­Information

Gemeinde und Kanton beobachten genau, wie sich die Situation entwickelt. Mithilfe von GPS-Sensoren, Lasertechnik und Radarinformationen registrieren die Behörden die Bewegungen des Berges. Bei grosser Gefahr müsste das Dorf evakuiert werden. Noch besteht Hoffnung, dass es nicht so weit kommt. Doch die Ungewissheit belastet die Menschen in Brienz. Sie werden von der Gemeinde an Infoabenden, per monatlichem Newsletter und mit einer eigens dafür eingerichteten Website über die Gefahrensituation auf dem Laufenden gehalten und über Schutzprojekte informiert.

Stollen als Hoffnungsträger

Ab diesem Herbst wird unterhalb des Rutschhanges für CHF 12 Millionen ein Sondierstollen gebaut. Der Tunnel wird 630 Meter lang und soll Klarheit darüber schaffen, ob die Rutschung von unten entwässert werden könnte. Mit Bohrungen aus dem Stollen in den Berg versucht man, dem Hang das Schmiermittel Wasser zu entziehen, damit dieser weniger rutscht. Gelingt das, könnte der Tunnel später zu einem 1,2 Kilometer langen Entwässerungsstollen ausgebaut werden. Einige Dutzend Millionen Franken würde das wohl kosten. Christian Gartmann sagt, alle Hoffnungen lägen nun auf diesem Stollen: «Gemeinde und Kanton tun alles dafür, Brienz zu retten.»

Brienz/Brinzauls als Auslöser für ­Versicherungssonderregelung:

­Normalerweise decken Gebäude­versicherungen nur Schäden, die schnell entstanden sind, etwa durch Sturm oder Hochwasser. Sie berufen sich darauf, dass man bei langsam entstehenden Schäden Zeit habe, diese abzuwenden. Die Gebäude­­versicherung Graubünden setzte sich mit Blick auf den Fall Brienz und ­andere von Rutschungen be­troffenen Gebiete erfolgreich ­dafür ein, dass der Interkantonale Risiko ­Verband – der Rückversicherer der Schweizer Gebäudeversicherungen – neu bei permanenten Rutschungen auch für langsam entstehende Schäden aufkommt, wenn diese zum ­Total­schaden führen. Dies, weil ­solche Schäden für die ­einzelnen Gebäude­eigentümer nicht ­abwendbar sind.

Mehr Infos:
www.brienzer-rutsch.ch