1.5 Mio.
sanierungs-
bedürftige Gebäude

80% Wohngebäude vor 1990 gebaut

Die Zeit drängt: Wir müssen uns differenzierte Überlegungen zur Nachhaltigkeit unserer Immobilien machen. Das heisst, wir müssen besser verstehen, welche Komponenten sich in welcher Weise auf die Nachhaltigkeit auswirken. Das Bewusstsein der Bauherrschaften und Planer für die Nachhaltigkeit ist zwar grösser als noch vor ein paar Jahren, allerdings beschränkt es sich hauptsächlich auf Energie­einsparungen. Beim Umbauen und Renovieren neigen wir dazu, den Einfluss gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Aspekte auf die Nachhaltigkeit zu unterschätzen.

Bauen ist eine kulturelle Handlung. Auch der Bund will in der Schweiz eine qualitativ hochstehende Baukultur langfristig und proaktiv fördern. In seiner Strategie «Nachhaltige Entwicklung» (SNE) betont er, dass das umfassende Verständnis von Nachhaltigkeit die Baukultur als wesentlichen Faktor mit einschliesse. Architektonische Massnahmen betreffen demnach nicht nur das einzelne Objekt und dessen Benutzer; die Handlung hat einen viel weiteren Einflussradius.

Qualitäten beurteilen – nicht nur Mängel

Um die ökologische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verträglichkeit eines Gebäudes über die ganze Lebensdauer zu erreichen und zu erhalten, müssen regelmässig strategische Entscheidungen getroffen werden. Diese sollen entweder dessen Lebensdauer verlängern oder dazu dienen, den Bau an neue, veränderte Anforderungen anzupassen. Grundvoraussetzung dafür ist die Fähigkeit, alle Qualitäten und Mängel des Gebäudes zum betreffenden Zeitpunkt zu erkennen und zu beurteilen. Obwohl eine enge Wechselbeziehung zwischen der Architektur und dem Wert einer Immobilie besteht, wird diese nicht immer so angemessen analysiert, wie es eigentlich nötig wäre. Damit ein Objekt einen zukunftssicheren Wert darstellt, müsste es jedoch anhand eines architektonischen Profils beurteilt werden. Für die zuverlässige Bewertung und Verwaltung eines Gebäudes und das Treffen der richtigen Entscheide für seine Zukunft gilt es, die grundlegende Rolle der Architektur beim Bau von Immobilien zu analysieren und zu beurteilen. Dies unter Einbezug der Bedingungen, Anforderungen und Erwartungen heutiger und künftiger Benutzer. Grundsätzliche Überlegungen zur Rolle, zur Bedeutung und zum Umfang der Architektur haben zum Ziel, eine qualitativ hochstehende Baukultur zu verstehen, aufzubauen und zu erhalten.

Gebäudequalität, Ort und Zweck berücksichtigen

Das Thema lässt sich mithilfe der wohl eindrücklichsten und eigenwilligsten Definition der Architektur von Adolf Loos (1870–1933) besser begreifen: «Wer im Wald einen sechs Fuss langen und drei Fuss breiten Hügel findet, der offensichtlich mit einer Schaufel zur Pyramide geformt wurde, wird ernst und etwas in ihm sagt: Hier liegt jemand begraben. Das ist Architektur.» Die Definition zeigt mehrere Ebenen auf: den Geist des Ortes (genius loci), in diesem Fall des Waldes, der unsere Seele auf eine ganz bestimmte Art beeinflusst und prägt, die von der Atmosphäre einer bebauten Umgebung etwa sehr verschieden ist. Dazu kommt das künstlich erschaffene Element: der Hügel, der sich von der natürlichen Umgebung des Walds abhebt, zusammen mit einer präzisen Beschreibung seiner Machart (vom Menschen mit einem Werkzeug, nämlich einer Schaufel geschaffen), sowie die exakte symbolische Form (eine Pyramide) mit den entsprechenden Abmessungen und deren Hinweis auf die Grösse eines menschlichen Körpers (6 × 3 Fuss). All diese Eindrücke erzeugen Gefühle zu dem, was uns bevorsteht: Die Form zeigt dem Menschen Wesen und Zweck des Bauwerks auf. Die Beobachtung oder Beschreibung führt in uns zum ­Erkennen des Objekts und zu einer beinahe unbewussten Identifizierung.

Die Anpassung eines Gebäudes an energiespartechnische Anforderungen sollte nicht der rein technischen Problemlösung dienen.

Kein rein technisches Problem

Folglich geht die Rolle der Architektur weit über eine rein technisch-funk­tionale Lösung hinaus – neben ästhetischen Überlegungen umfasst sie auch die soziokulturellen und sprachlichen Qualitäten sowie die gewohnheitsmässige Nutzung eines Orts, einer Umgebung oder einer Stadt. Deshalb sollte auch der einfachste Eingriff in die Architektur, etwa die Anpassung eines Gebäudes an energiespartechnische Anforderungen, nicht nur der rein technischen Problemlösung dienen. Jede Massnahme muss ins künstlerische Konzept der strukturellen, funktionalen und ästhetischen Elemente eines Baus sowie in dessen geografische und historische Lage integriert werden. Werden diese Aspekte vernachlässigt oder gar beeinträchtigt, verringert dies die Attraktivität eines Objekts. Ein einfaches, aber frappantes Beispiel sind der Einbau neuer Fenster und Türen, die Wärmedämmung der Fassade und die Installation neuer technischer Anlagen, sofern all diese Massnahmen ohne den Einbezug architektonischer Kriterien erfolgen (siehe Beispiel Schule in Gordola TI). Durch den Einsatz von Profilen verschiedener Grössen und der damit verbundenen heterogenen Verteilung der Fensterfronten, mit der wahllosen Montage dicker Isolationsschichten direkt auf die Fassade, die vielleicht noch nach dem Geschmack des Bauleiters gestrichen werden, und durch den unkoordinierten Einbau eines Haufens technischer Anlagen erreicht man häufig eine komplette Verfälschung der ursprünglichen Eigenschaften eines Gebäudes. Auch der oft praktizierte Abriss nicht tragender Wände in bestehenden Bauten mit der Absicht, in alten Gebäuden grosszügige, moderne Räume zu schaffen, führt oft zur vollständigen Zerstörung der Atmosphäre, ohne jedoch dasselbe Resultat wie bei Neubauten zu erzielen.

Nachhaltigkeit ja, aber werterhaltend

Deshalb muss künftig mehr in die Nachhaltigkeit investiert werden. Das heisst, in die schrittweise Anpassung bestehender Gebäude an die heutigen Standards. Das ist mitunter sogar nachhaltiger, gerade im Hinblick auf die bereits verbrauchte graue Energie, als neu zu bauen. Erfolg verspricht dieser Ansatz jedoch nur, wenn das Objekt über einen architektonischen Wert verfügt, der erhalten oder verbessert statt zerstört oder vermindert wird. Jede Immobilienschätzung, jede strategische Planung und jede Massnahme erfordert daher eine genaue Bewertung des Niveaus und der Qualität der Architektur. So muss der Immobilienschätzer oder die Immobilienschätzerin – bei Bedarf mithilfe qualifizierter Fachleute – die Qualitäten und Möglichkeiten analysieren, die das Gebäude in architektonischer Hinsicht bietet. Um dessen Vorzüge, Chancen, Risiken, doch vor allem auch die Grenzen der baulichen Massnahmen zu ermitteln.

SIREA plant zum Thema
«Wechselbeziehung zwischen ­Architektur und Immobilienwert» Kurse auf Italienisch und Deutsch. Weitere Informationen: www.sirea.ch/kurse

Brenno Borradori

Architekt dipl. ETHZ aus Gordola TI, Immobilienschätzer und ­Inhaber von Atelier d’Architettura sowie Dozent
beim SIREA