13 nationale und internationale Ansätze zur Nachhaltigkeit zählt die Swiss Valuation Standard (SVS) auf – und das sind nur jene, die in der Schweiz am häufigsten angewandt werden.¹ Der Trend zur Nachhaltigkeit ist an die­sem Labelwald sichtbar, er hat aber auch Einfluss auf den Immobilien­ markt. So spielen Nachhaltigkeitskri­terien bei Kaufentscheidungen institutioneller Investoren eine entscheidende Rolle. Das schreibt der Trendbarome­ter Immobilien­ Investmentmarkt 2022 von EY Schweiz.² 75 Prozent der für die Studie befragten 63 Investoren beobachten zudem Preisaufschläge bei ESG­ konformen Immobilien.³ Das heisst:

Bewerterinnen und Bewerter müssen Fragen der Nachhaltigkeit berücksichti­gen. Doch wie können sie mit der Kom­plexität des Themas umgehen?

Spezialisierung bringt Wettbewerbsvorteile

«Tatsächlich macht es die Vielfalt an Zertifizierungen, Standards und Labels für Bewerter, Bauherren und Berater schwierig, den Überblick zu behalten», sagt Stefan  Schrader, Inhaber  des Büros für Nachhaltigkeit am Bau. Er ist ETH­ Umweltingenieur, berät Bauherren und plant und koordiniert die Zertifizie­rung von Neu­ und Umbauten. Es gebe auch für ihn als Spezialisten nur eine Lösung, sagt Schrader: Die Konzentra­tion auf jene Ansätze, die er als wichtig und spannend einschätze. «Bewerter sollten sich in wenigen ausgesuchten Labels gut auskennen. Das bietet ihnen einen Wettbewerbsvorteil. Und sie bil­den sich in einem am Markt stark nach­ gefragten Thema weiter.»

Eine Entscheidungshilfe  kann die «Landkarte Standards und Labels nachhaltiges Bauen Schweiz» sein. Die­ser vom Netzwerk Nachhaltiges Bauen Schweiz (NNBS) herausgegebene Leit­faden zeigt auf, wie die verschiedenen Ansätze die Aspekte der Nachhaltigkeit (Energieeffizienz, Raumklima, Mobili­tät usw.) unterschiedlich gewichten. Er weist zudem aus, für welche Nutzung und welche Objektgrösse sich welcher Ansatz eignet – gerade für Bewerter interessant, die sich auf eine Gebäude­kategorie spezialisiert haben.

Der Einfluss auf den Wert

«Ein Beleg der Nachhaltigkeit, also ein Label oder Zertifikat, erhöht klar den Wert einer Immobilie», sagt Schrader. Diesen Zuwachs in harten Zahlen zu berechnen sei allerdings schwierig, entsprechendes Feedback erhalte er von Bauherren. «Die Frage ist unter anderem, wie Nachhaltigkeit gewich­tet wird im Vergleich zum nach wie vor dominierenden Wertfaktor der Lage.» Es werde allerdings immer wichtiger, die Risiken einer Immobilie zu bewerten. «Da zähle ich nachhaltige Aspekte dazu. Dazu gehören etwa die CO2-Bilanz eines Gebäudes, dessen Erschliessung auch mit nachhaltiger Mobilität oder die Flexibilität der Baustruktur für spätere Umnutzungen.»

Stossen aktuelle Bewertungsmethoden an ihre Grenzen, wenn es um ein derart vielseitiges Thema wie Nachhaltigkeit geht? Ja, sagt der SIREA-Dozent Beat Salzmann (siehe Interview). Die Bewertung der Nachhaltigkeit erfordere einen längeren Zeithorizont als jener der heutigen Methoden, so Salzmann. Er sitzt beim Swiss Institute for Real Estate Appraisal (SIREA) in der Methodikgruppe, die regelmässig über mögliche Weiterentwicklungen diskutiert.

Berufsverbände tragen neue Ansätze mit

Anregungen zur Methodik liegen bereits vor: So gibt es den Leitfaden «Nachhaltigkeit und Wertermittlung von Immobilien» (NUWEL), der vom SIV, von der Bewertungsexpertenkammer des SVIT sowie von der RICS mitgetragen wird. Verantwortlich dafür war das Center for Corporate Responsibility and Sustainability der Universität Zürich. Dieses hat auch den Economic Sustainability Indicator (ESI) entwickelt. Dieser fokussiert im Unterschied zu Labels, welche die im weitesten Sinne technischen Aspekte einer Immobilie abdecken, auf finanzielle Aspekte. Der Indikator beschreibt das Risiko oder die Chance, dass eine Immobilie aufgrund externer Entwicklungen (Energiepreise, Klimaveränderung, demografischer Wandel usw.) an Wert verliert oder gewinnt. Allerdings liegt die Entwicklung von NUWEL wie auch ESI schon einige Jahre zurück.

«Viele Labels dienen vor allem der Vermarktung»

Nachhaltigkeit wird auch in der Immobilienwirtschaft immer wichtiger. Herr Salzmann, Sie setzten sich intensiv mit Bewertungsmethoden auseinander – inwiefern ist das Thema in diesem Bereich der Immobilienwelt angekommen?

Beat Salzmann: Das Verständnis, was Nachhaltigkeit bedeutet, nehme ich in der Immobilienbewertung noch zu wenig wahr. Wenn wir heute ein Gebäude bauen, wird dieses 80 bis 100 Jahre genutzt. Um dessen Wirtschaftlichkeit zu berechnen, müsste man eine echte Vollkostenrechnung anstellen. Dazu zähle ich zum Beispiel auch die Kosten, die irgendwann beim Abbruch und Recycling anfallen werden. Oder die Kosten der grauen Energie, die in die Baustoffe gesteckt wird. Nachhaltigkeit bedeutet bei so einer Rechnung weit gefasst, dass der Aufwand im Verhältnis zur Nutzungsdauer möglichst tief ist – egal ob wir diesen in Franken oder CO2 messen. Die Immobilienwirtschaft ist aber nach wie vor auf den aktuellen Wert oder zu kurze Zeithorizonte fokussiert. Die DCF-Methode etwa schaut gerade mal zehn Jahre voraus.

Allerdings gibt es bereits viele Labels und Zertifikate, die die Nachhaltigkeit einer Immobilie ausweisen.

Das stimmt, aber dass ein Label heute einen erheblichen Einfluss auf die Bewertung hat, würde ich bezweifeln. Viele Labels sind vor allem ein Vehikel für die Vermarktung. Damit will ich diese nicht schlechtreden, hinter vielen Labels stehen ernsthafte Bemühungen. Aber natürlich gibt es grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansätzen. Als Bauherr muss man diese genau prüfen, bevor man sich für ein Label oder Zertifikat entscheidet. Ein nachhaltiges Label muss aus meiner Sicht zum Beispiel die Kosten für die spätere Entsorgung einberechnen. Das machen heute die wenigsten Angebote.

Welche Entwicklungen sehen Sie im Bereich nachhaltiger Immobilien?

Heute werden exorbitante Preise für Objekte bezahlt, die vielleicht erst 30 oder 40 Jahre alt sind. Dann reisst man diese ab und erstellt einen Neubau. Das funktioniert aber nur aufgrund explodierender Bodenpreise. Aktuell ist das rentabel, doch langfristig wird dieser Ansatz nicht aufgehen. Wie gesagt, verlangt echte Nachhaltigkeit mit tiefen Kosten in finanziellen und ökologischen Bereichen, dass man eine Immobilie viel länger nutzt.

Beat Salzmann ist Architekt ETH und hat dort zum Wertveränderungsprozess von Immobilien doktoriert. Salzmann arbeitete während 20 Jahren als Berater und Bewerter, u. a. für die IAZI AG. Er ist Dozent an verschiedenen Fachhochschulen und am SIREA.

  1.  Swiss Valuation Standard (2017). Das Kapitel 7 der SVS befasst sich im Detail mit Nachhal­tigkeit in der Immobilienbewertung.
  2.  https://www.ey.com/de_ch/news/2022­press­ releases/01/sustainability­and­pandemic­-shape­the­real­estate­market
  3.  ESG steht für die Bewertung der Nachhaltig­keitsaspekte Umweltschutz (E – environment), soziale Verantwortung (S – social) und
       verantwortungsvolle Unternehmensführung (G – governance).