Wenn es um Schätzungen geht, stehen einige Beobachtungen im Fokus, die nicht so ganz zusammenpassen wollen. Jeder Bewerter betont die Genauigkeit seiner Bewertung. Dies, obwohl statistisch bewiesen ist, dass zwei Bewertungen derselben Liegenschaft durchaus +/–20% differieren können. Bei Arealen können die Unterschiede sogar weitaus höher sein.
Langfristige Annahmen versus kurzfristige Gültigkeit
Bei der Schätzung von Immobilien geht es immer um lange Zeiträume. Private oder institutionelle Investoren haben Haltedauern von weit über einem Jahrzehnt. Durchschnittliche Verweildauern von Wohnungsmietern betragen 5 bis 7 Jahre. Restlaufzeiten in kommerziellen Portfolios liegen in der Regel bei 5 bis 8 Jahren. Grössere Instandsetzungszyklen werden innerhalb von 10 bis 25 Jahren vorgenommen. Und die Jahre 11 bis 100 oder unendlich machen den grössten Teil des Wertes aus, obwohl hier die Annahmen am ungenauesten sind. Trotzdem wird am Ende eines jeden Bewertungsberichts auf seine kurze Gültigkeit von wenigen Tagen hingewiesen. Die Formulierung kann lauten: «Die in diesem Dokument enthaltenen Informationen … beziehen sich auf den Zeitpunkt der Erstellung dieses Dokuments» oder «Der errechnete Wert kann … in kurzer Zeit erhebliche Abweichungen erfahren». Weiter werden umfangreiche Disclaimer formuliert, die den Bewerter in seiner Genauigkeit vor jeder Ungenauigkeit schützen. Ausgewiesene Werte kommen also in einem engen Korsett von Annahmen zustande.
Klar kann der Schätzer nicht für unvollständige oder fehlerhafte Informationen verantwortlich sein. Es handelt sich um eine «Schätzung», wie es traditionell in der Schweiz heisst. Sprachlich beinhaltet die Schätzung bereits die Ungenauigkeit – im Gegensatz zur Bewertung, die sprachlich eine Genauigkeit vortäuscht, die sie nicht hat.
Es existieren zwei Bewertungsprinzipien. «Mark-to-Market» bewertet Vermögenswerte zu aktuellen Marktpreisen. Die Anwendung ist in liquiden Märkten und bei Immobilien in angelsächsischen Märkten üblich. Im Gegensatz dazu die «Mark-to-Model»-Schätzung. Sie ist geeignet für illiquidere Märkte, basiert auf Finanzmodellen und ist unter anderem in der Schweiz üblich. Märkte, die «Mark-to-Market» bewerten, sind in ihren Werten volatiler, wogegen Märkte, die «Mark-to-Model» schätzen, anfälliger für psychologische Phänomene sind.
Eigene Darstellung.
Wir agieren nicht immer rational
Müssen unter Unsicherheit Urteile gefällt werden, kommt es zu verhaltensorientierten Handlungen. Dies umso mehr, wenn harte Marktdaten nicht in ausreichendem Masse vorhanden sind und stattdessen ein eigenes Gefühl für den Markt gegeben ist. Um Unsicherheiten zu überbrücken, suchen Menschen nach Haltepunkten, die ihnen Sicherheit geben.
Kahneman und Tversky1 haben Anfang/Mitte der 1970er-Jahre aus der Analyse psychologischer Phänomene – sogenannte Heuristiken – in der Ökonomie definiert. Der Begriff Heuristik stammt vom griechischen Wort «heuriskein» ab, was «finden» oder «entdecken» bedeutet. Es handelt sich um kognitive Faustregeln, die uns helfen, bei unvollständigem Wissen und begrenzter Zeit Urteile zu fällen. Kurz: Es sind mentale Abkürzungen zur Entscheidung. Diese sind nützlich, doch können sie zu systematischen Fehlern führen. Seit Mitte/Ende der 1990er-Jahre wissen wir, dass sie auch in Immobilienmärkten vorkommen.
– Schätzer, die von ihnen zuletzt betrachtete Informationen stärker gewichten als solche, die sie zu einem früheren Zeitpunkt wahrgenommen haben, wurden von der Verfügbarkeitsheuristik2 verführt.
– Informationen, die das eigene Urteil bestätigen, werden übergewichtet. Suchen Schätzer im Prozess nach Informationen, die einen von ihnen geschätzten vorläufigen Wert bestätigen, sind sie der Bestätigungsheuristik3 aufgesessen.
– Kennt der Schätzer den früheren Wert oder schätzt er wiederholt dieselbe Liegenschaft, tendiert er dazu, sich an diesen Werten zu orientieren, was über Zeit für eine Glättung sorgt. Vergangene Werte wirken wie ein Anker (Verankerungsheuristik4). Die Tendenz hierzu ist umso grösser, je weniger vertraut der Schätzer mit dem Markt ist.
– Je typischer eine Liegenschaft für eine Kategorie (zum Beispiel Lage, Architektur) ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Liegenschaft auch tatsächlich in diese Kategorie gehört. (Repräsentativitätsheuristik5). Dies ist vergleichbar damit, dass wir versucht sind, einen Menschen bei der ersten Begegnung unwillkürlich in eine Schublade einzuordnen. Sei es am Kleidungsstil oder anderen äusseren Merkmalen. Jedes Merkmal, welches unser vorschnelles Urteil bestätigt, wird übergewichtet.
Schätzer und Bewerter sind auch nur Menschen. Selbst wenn Werte für Bilanzen, Verkaufsprozesse und Darlehen etc. verwendet werden, sollten alle Beteiligten die Ergebnisse einer Schätzung mit entsprechendem Abstand betrachten. Es gilt, Annahmen, Methoden und Heuristiken zu verstehen. Ich wünsche Ihnen reiche Erkenntnis bei der Beobachtung des eigenen Verhaltens.
1 Tversky, A. & Kahneman, D. (1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science, 185, 1124 – 1131.
2 Gallimore, P. (1994): Aspects of Information Processing in Valuation Judgment and Choice, in: Journal of Property Research,
11. Jg., Nr. 2/1994, S. 97 – 110.
3 Gallimore, P. (1996): Confirmation Bias in the Valuation Process: A Test for Corroborating Evidence, in: Journal of Property Research,
13. Jg., Nr. 4/1996, S. 261 – 273.
4 Diaz, J. III/Wolverton, M. L. (1998): A Longitudinal Examination of the Appraisal Smoothing Process, in: Real Estate Economics,
26. Jg., Nr. 2/1998, S. 349 – 356.
5 Tversky, A. & Kahneman, D. (1972). Subjective Probability: A Judgment of Representativeness. Cognitive Psychology 3,
1972, 430 – 454.
Zur Person
Dr. Stephan G. Kloess ist Wirtschaftsingenieur und führt den unabhängigen Investment Advisor KRE KloessRealEstate. Von 2003 bis 2007 war er als Mitgründer verantwortlich für den Aufbau des Center for Urban and Real Estate Management (CUREM – Universität Zürich). Als Dozent engagiert er sich zudem an verschiedenen Hochschulen in der Weiterbildung.

