Mit der Ausführung der projektierten Bauten wurde nach der Bewilligung direkt begonnen; im Folgejahr waren sie fertiggestellt. Es handelte sich um fünf aneinandergebaute Mehrfamilienhäuser; eines, das hier betrachtet wird, mit einer Gebäudegrundfläche von rund 100 m², einem Untergeschoss, einem Ladengeschoss, vier Obergeschossen mit je einer Wohnung sowie zwei Dachgeschossen, davon eines mit einer weiteren Wohnung. Das alles auf knapp 200 m² Landfläche für das eine Haus, von dem hier die Rede ist. Ein Gesellenstück der baulichen Verdichtung – im vorletzten Jahrhundert. Das Haus fand, kaum fertig, einen Käufer. Gemäss Kaufbrief, datiert mit 30. September 1899, erwarb Emil Hirzel, Metzger, dieses Wohnhaus mit gewölbtem Keller zum Preis von CHF 58 000. Es blieb in der Familie, bis es vor kurzem nach 124 Jahren die Hand wechselte.

Via Zirkusnummern zum Wert

Diese lange Besitzesdauer eignet sich zum Nachdenken über dieses und jenes. Nehmen wir als erstes die Entwertung. Bekanntlich gibt es mehrere, zumindest begrifflich: die Altersentwertung, die wirtschaftliche Entwertung, die technische Entwertung. Dazu gibt es ebenso vieleTheorien, wie diese Entwertungen zu quantifizieren seien. Wer jemals eine Aus- oder Weiterbildung im Bewertungswesen absolviert hat, wird sich daran erinnern, welche finanzmathematischen Zirkusnummern es gab, um durch einen Abzug vom Neuwert der Bauten und Anlagen zu einem vermeintlich aktuellen Wert zu kommen oder – noch abartiger – einen rein hypothetischen jährlichen Rückstellungsbetrag zu bestimmen.

Nebst der mathematischen Seite gibt es eine ebenfalls umfangreiche Literatur zum Thema, wie viele Jahre eine durchschnittliche Türe, Badewanne oder Spenglerarbeit in Kupfer-, Eisen- oder Chromnickelblech ihre Aufgabe ordentlich erfüllen soll. Wäre unser Mehrfamilienhaus im  Kreis  4 nur ansatzweise dergestalt behandelt worden, wären in seiner bisherigen Lebenszeit eine Grössenordnung von CHF 1,1 Mio¹. ausgegeben worden: alleine schon die unter dem schönen Begriff grosszyklische Renovation – in 124 Jahren etwa viermal oder fünfmal anfallend, und weiter, schön nach der Theorie, jedes Mal zu Kosten von rund 50 Prozent des geteuerten Gebäudeneuwertes. Das alles hat unser altes Haus nicht durchmachen müssen.

Fernab jeglicher Realität

Soweit ersichtlich wurden 1936 Badewannen und neue Aborte eingebaut, dann wurde für die Wärmeerzeugung von Kohle auf Heizöl und schliesslich auf Gas umgestellt. Ersetzt wurden in der ganzen Zeit einmal die strassenseitigen Fenster durch solche mit Isolierverglasung. Hin und wieder fanden bei einem der seltenen Mieterwechsel innere Malerarbeiten und ein Ersatz eines Kochherdes oder Kühlschranks statt. In Zahlen ausgedrückt waren das rund CHF 200 000, also etwa ein Fünftel des Lehrbuchbetrags. Kurz gesagt: Dieser ganze Entwertungsansatz ist nichts anderes als Futter für profilierungsfreudige Theoretiker. Fernab jeglicher Realität.

Als  Nächstes  sehen  wir   uns die Wertentwicklung des alten Hauses an. Ein Vergleich mit der Teuerung oder einem verlässlichen  Preisindex ist mangels Daten nicht bis ins Baujahr zurück möglich. Fahrländer und IAZI waren noch nicht an der Arbeit, die Datenreihen von Nationalbank und Bundesamt für Statistik höchstens bis 1914 zurückreichend. Ausgehend vom Kaufpreis 1898 von CHF 58 000 ist festzustellen, dass der Wert bis 2022 um 9483 Prozent anstieg, sich also rund verfünfundneunzigfacht hat. Die Wertzunahme auf Basis des Einfachzinses – also nicht Zinseszins – beträgt 76 Prozent pro Jahr über die Besitzesdauer. Nicht wirklich schlecht.

Die Mieter, die eigentlichen Benzinlieferanten dieses Wert-Generators, sind offenbar noch heute mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis ihrer Wohnungen zufrieden. Am längsten im Haus ist derzeit einer seit 39 Jahren. Die aktuellen Mietzinse liegen denn auch unterhalb des 10-Pozent-Quantils der Angebotsmieten von 2022. Dem Ausbaustandard ist damit mehr als Rechnung getragen. Die nun erfolgte Handänderung der Liegenschaft hat die Mieter verunsichert. Was mit dieser Art von Häusern geschehen kann, wurde oft mit Headlines wie «Spekulantenparadies Weststrasse» oder ähnlichen durch die einschlägigen Presseerzeugnisse gezogen. Allerdings ist es unausweichlich, dass in unserer alten Hütte früher oder später Handwerker aufkreuzen werden. Erneuerungsbedarf gibt es.

Eine Portion Baufachwissen gefragt

Das führt uns zum nächsten  Punkt: Den eigentliche Verkaufsablauf. Der Beauftragte musste sich überlegen, welcher Verkaufspreis anzusetzen sei und wie weit highest and best use für dessen Festlegung angemessen wäre. An einer Bewertung von 2017 der Zürcher Kantonalbank, die einen Marktwert von CHF 3,36 Mio. ergab, wollte er sich jedenfalls nicht orientieren. Zwar methodisch korrekt, aber angesichts der Marktdynamik der letzten  Jahre zu weit zurück, und das Ausbaupotenzial des zweiten Dachgeschosses links liegen gelassen. Eine Spekulanten- Bewertung – günstig aufmotzen und teure  Eigentumswohnungen  anpeilen – kam nicht infrage. Also seriöse Zukunftsannahmen für das Haus treffen, Umbau zugunsten der Mieter erst etwa zwei Jahre nach Handänderung, dann aber eine Totalsanierung inklusive Ausbau der Dachgeschosse und mit einem hohen Ausbaustandard mit zusätzlichen Balkonen auf der Südseite, Waschturm in jeder Wohnung. Dafür anschliessend bei der Neuvermietung ein Mietwert im Bereich des 70-Prozent-Quantils. Das Bewertungsresultat wurde als Mindestpreis eines einstufigen Bieterverfahrens angesetzt. Die Vermarktung erfolgte mit zwei Zeitungsinseraten, auf welche sich 35 Interessenten meldeten. Keine Internetplattformen. Das Gros dieser Interessententruppe musste beim Studium der Verkaufsdokumentation zur Kenntnis nehmen, dass bei dieser Liegenschaft eine Portion Baufachwissen oder zumindest keine Angst vor einer Baustelle förderlich wären. Das schliesslich ausgewählte Angebot lag zehn Prozent über dem Bewertungsresultat; es stammt von einem Topfachmann der Bewertungsbranche. Nein, nicht von Canonica, auch nicht von … oder von … Was dieser dann tatsächlich macht mit dem Haus, werden wir sehen.

Was Astrophysiker dem Bewerter voraushaben

Zum Schluss ein Blick auf die Grundstückgewinnsteuer, für den  Verkäufer der letzte Akt des Verkaufs. Diese wird im Kanton Zürich so berechnet, dass bei einer längeren Besitzdauer als zwanzig Jahre der Grundstückgewinn als Differenz zwischen dem erzielten Verkaufspreis und dem Wert der Liegenschaft vor zwanzig Jahren berechnet wird, abzüglich wertvermehrender

Das alles hat unser altes Haus nicht durchmachen müssen.

Investitionen und Verkaufsaufwand. Die Krux – man sieht es kommen – ist die Bestimmung dieses Wertes vor 20 Jahren. Die Steuerbehörden der Gemeinden haben dazu eine eigenwillige Praxis entwickelt. Der einzige Vorteil ihres Ansatzes besteht darin, dass er – im Gegensatz zu hedonischen Modellen – für jedermann nachvollziehbar ist, und die Rechnungskünste eines Sekundarschülers ausreichen. Alles andere daran ist weit entfernt von einer heutzutage akzeptablen Bewertung.

Die Zürcher Gemeindesteuer- ämter verwenden nämlich die Mischwertmethode, oh Graus, dieses unselige Gebräu aus Realwert und Ertragswert, welches gemäss Swiss Valuation Standard nicht mehr der Best Practice im modernen Bewertungswesen entspricht und zur Ermittlung eines Markt- oder Verkehrswertes nicht geeignet ist. Mangels vertiefter Kenntnisse bestimmen die Steuervögte zu all dem den Realwert noch aufgrund des indexierten Gebäudeversicherungswertes und einer grob-schematischen prozentualen Entwertung, die im vorliegenden Objekt mit 30 Prozent des 124-jährigen Gebäudes angesetzt worden ist. Ein Kursbesuch bei SIREA oder beim SIV würde dieses Übel mindestens etwas mildern – so denn die Obergurus der Finanzdirektion ihren Segen zu einer Praxisänderung gäben. Noch schöner wäre ein Machtwort des Steuerrekursgerichts.

Astrophysiker haben es super. Ihnen ist es  möglich,  bereits  heute zu wissen, dass der Mars in etwa 2,5 Milliarden Jahren auftauen wird. Der einfache Bewerter wäre froh, wenn er wüsste, was er für 2023 als Jahresteuerung annehmen soll, wählt er für seine DCF-Bewertung nicht die reale, sondern die nominale Darstellung.

Martin Frei

MSc ETH in Architektur / SIA, MAS ETH in Management, Technology and Economics / BWI, Zürich

  1.  Der Rechnungsgang ist zusammengesetzt aus den Grosshandelsindizes nach Haupt­warenkategorien und Konsumentenpreis­indizes nach
       Hauptbedarfsgruppen 1813 bis 1992 und dem Nominal-Lohnindex (Quelle: Historische Statistik der Schweiz, https://hsso.ch/de/2012/h/1)
       und dem Zürcher Index für Wohnbaukosten.