In meiner Funktion muss ich mich oft zum Zustand der Tessiner Baubranche, insbesondere zu Zukunftsaussichten, äussern, dabei den Umsatz, die Arbeitsmarktreserven, den Angebotsumfang auf dem Markt, die erteilten Aufträge und die Beschäftigungsdynamik bewerten. Es handelt sich dabei um vielseitige und komplexe Erkenntnisse und statistische Indikatoren, verknüpft mit der Wahrnehmung an der «Front» durch die häufigen Kontakte mit den Mitgliedern des Baumeisterverbands, Sektion Tessin.
Die Covid-19-Pandemie, die einen Grossteil des Jahres 2020 geprägt hat, lässt bei den Unternehmern oft erneut ein Gefühl der Unsicherheit aufkommen. Die Erinnerung an den Lockdown, der in unserer Branche ungefähr eineinhalb Monate gedauert hat, ist noch sehr präsent: In dieser schwierigen Lage sank der Umsatz auf einen Schlag auf null. Gleichzeitig blieben aber die Fixkosten und die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber auf demselben Niveau.
Druck auf Margen weiter gestiegen
Angesichts dieser Haushaltsperiode scheint das Jahr 2020 ein Jahr zum Vergessen zu sein. Trotz der guten, aber nur teilweisen Wiederaufnahme des Bausektors im Sommer und Herbst sowie der günstigen Wetterbedingungen müssen wir uns nun dieser Aufgabe stellen. Die Unterschiede zwischen den Branchen (Hochbau, Tiefbau, Untertagebau, Neubauten und Renovationen) sowie zwischen den einzelnen Betrieben zeichnen sich sowohl in der Produktion als auch in den Arbeitsmarktreserven ab. Ausserdem geht aus der Angebotsöffnung der öffentlichen Aufträge hervor, dass der Druck auf die Gewinnmargen weiter gestiegen ist.
Dies führt bei Unternehmern zu Schwierigkeiten bei der Erstellung von Kostenvoranschlägen für 2021 angesichts grosser Unsicherheit aufgrund der Pandemie. Wird es Arbeit geben? Werden die Grenzgänger normal ins Tessin ein- und aus dem Tessin ausreisen können? Wird die Baustoffversorgung aus dem Ausland sichergestellt sein? Werden die öffentlichen Auftraggeber, die sich mit ausserordentlichen Kosten wegen der Pandemie und den Sorgen der Finanzminister auseinandersetzen müssen, und die privaten Auftraggeber, die um ihre eigene Arbeit fürchten, weiterhin in den Bau investieren oder werden sie eher eine abwartende Haltung einnehmen? Das sind die Fragen, die ich leider häufig von Bauunternehmern höre, obwohl sich – wenn auch bescheidene – wirtschaftliche Aussichten für die künftige Arbeitsbeschaffung abzeichnen.
An grossen Infrastrukturprojekten mangelt es im Tessin nicht.
Zähne zusammenbeissen
An grossen Infrastrukturprojekten mangelt es im Tessin nicht; es gibt bedeutende Projekte zur Renovation älterer Gebäude (zur Wert-, Komfort- und Energieeffizienzsteigerung), insbesondere in Ballungsräumen. Wenn ich ans kantonale und kommunale öffentliche Bauwesen denke, gibt es mit Sicherheit zahlreiche Gebäude, die wichtige Unterhalts- und Modernisierungsarbeiten nötig haben (z. B. Schulen).
Es ist allen klar, dass wegen des fehlenden Bevölkerungswachstums im Tessin in den letzten Jahren und der steigenden Leerwohnungsziffer das private Bauwesen nicht auf dem hohen Niveau des letzten Jahrzehnts bleiben kann. In den nächsten Monaten, die im Zeichen der Gesundheitsfrage im Zusammenhang mit der Pandemie stehen werden, werden wir alles daransetzen, die Unsicherheit zu beseitigen, die den Unternehmergeist unterdrückt – jenen Unternehmergeist, der in den vergangenen Jahrzehnten Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in unserer Region sichergestellt hat. Der Erhalt der Arbeitsplätze hat für alle Priorität: Nun heisst es Zähne zusammenbeissen und eine Beschäftigungskrise vermeiden, die in einer solchen Zeit der allseits herrschenden Unsicherheit noch schädlicher wäre.
Nicola Bagnovini
Ingenieur; Schweizerischer Baumeisterverband,
Direktor der Sektion Tessin