Martin Frei, seit Beginn der Corona­-Krise hat die Unsicherheit in ­praktisch allen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen ­zugenommen. Welche dieser Veränderungen betreffen Bewerterinnen und Bewerter insbesondere?

Voraus will ich betonen, dass der Bewerter in seinem Beruf schon immer in einem wahren Meer der Unsicherheit geschwommen ist. Eine Bewertung macht Aussagen über den Ertragsfluss der Zukunft. Solche Aussagen sind immer unsicher. Es müssen viele Annahmen getroffen werden, um sie zu formulieren. Aber natürlich hat Corona das noch zugespitzt. So ist seit Beginn dieser Krise die Anzahl der Transaktionen stark zurückgegangen. Damit fehlen Vergleichswerte und das erschwert möglichst präzise Bewertungen. Auch die Entwicklung der zukünftigen Erträge ist noch unsicherer geworden, beispielsweise aufgrund von politischen Diskussionen über den Erlass von Mietzinsen für Geschäftsliegenschaften.

Wie kann eine Bewerterin/ein Bewerter solche und weitere Unsicherheiten korrekt ausweisen? 

Es gibt einerseits konkrete Vorgaben dazu. Bei börsenkotierten Immobilienunternehmen gehören die Vorgaben der International ­Financial Reporting Standards (IFRS) sowie das «Red Book» der Royal Institution of Chartered Surveyors (RICS) zu den ausführlichsten Regelwerken. In der Schweiz gibt es etwa die Empfehlungen zur Rechnungslegung (Swiss GAAP FER) und das Kollektivanlagengesetz. Letzteres schreibt für Anlagestiftungen beispielsweise vor, Veränderungen von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung auszuweisen. Aber trotz aller Regelwerke und Standards bleibt die Verantwortung des Bewerters bei der Ausweisung von Unsicherheit sehr gross. Gefragt sind in der Regel nämlich qualitative Beschreibungen. Das «Red Book» schreibt sogar, dass Quantifizierungen «fälschlicherweise Präzi­sion suggerieren» könnten. 

Was halten Sie von einem «Corona-Disclaimer»?

Der Konsens bei den grösseren Bewertungsunternehmen und Revisionsgesellschaften ist mittlerweile, auf einen solchen zu verzichten. Man sollte stattdessen auf eine allgemein erhöhte Unsicherheit hinweisen. 

Die Swiss Valuation Standard (SVS), an denen Sie mitgewirkt haben, ­thematisieren Bewertungsunsicher­heiten auf zwei von insgesamt gut 80 Seiten. Warum wird diesem ­wichtigen Faktor so wenig Platz ­gegeben?

Vielleicht ist das mitunter ein Hinweis darauf, dass Unsicherheit eben sehr schwierig zu erfassen und auszuweisen ist. Die SVS fassen in ihren Empfehlungen zum Thema Bewertungsunsicherheit vor allem den Stand von internationalen Regelwerken zusammen, wie etwa das erwähnte «Red Book». Die SVS erinnern übrigens auch daran, dass die in der Schweiz beliebte DCF-Methode viele Parameter benötigt, die nicht direkt am Markt beobachtbar sind. Die Methode – aber natürlich nicht nur diese – hat also eine recht hohe Unsicherheitskomponente. 

Muss man das erwähnte Bad in Unsicherheit als Bewerter aushalten können, es manchmal vielleicht sogar geniessen?

Man ist sich als Bewerter im Alltag nicht permanent bewusst, wie gross der Grad der Unsicherheit ist, unter dem man arbeitet. Das wäre vielleicht langfristig ungemütlich. Aber ja, als Bewerter muss man diesen Zustand aushalten und idealerweise auch interessant finden. Es braucht eine Prise Wagemut in diesem Beruf. Immobilien­bewertung ist eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Kunst. Die Bewertung soll so wissenschaftlich und präzis wie möglich erstellt werden. Aber letztlich braucht es auch Intui­tion und Erfahrung, um aus den ermittelten Resultaten ein fertiges Werk zu produzieren. 

In einer Ihrer Kolumnen für den SIV schrieben Sie, dass Bewerter oft Zahlen «glätten» und so Unsicherheiten ausblenden. Warum wird das gemacht?

Was ich mit «glätten» meine, ist, dass die Bewertungsergebnisse beispielsweise von Portfolios von institutionellen Anlegern nicht immer den tatsächlichen Marktschwankungen folgen. Es war auch 2020 beobachtbar, dass bei den Bewertungen einiger grosser Immobiliengesellschaften die Bandbreite der Diskontierungssätze per 30. Juni die gleiche war wie bei der vorangehenden Bewertung – obwohl wir ja in diesem Jahr doch einige Umbrüche hatten, die Einfluss auf diese Werte hatten. Natürlich gibt es zwischen den Bewertern und den Anlegern immer wieder Gespräche, was einen gewissen Einfluss auf die Bewertung erklären könnte. Es gibt daneben aber auch Bewertungsbücher in der Schweiz, die empfehlen, einen über eine gewisse Zeitdauer «geglätteten» Basiszinssatz zu verwenden. In der Regel werden «geglättete» Bewertungen aber durch den Markt spätestens beim Verkauf wieder an die Realität angepasst. Ausserdem sind gemäss Swiss GAAP FER 26 «Rechnungslegung von Vorsorgeeinrichtungen» Glättungseffekte in der Bewertung von Vermögensanlagen, beispielsweise bei der Bewertung von Obligationen, Immobilien und Beteiligungen, explizit nicht erlaubt.

Stichwort Markt – was unterscheidet Unsicherheit vom Marktrisiko?

Die Marktrisikoprämie lässt sich in der Ökonomie vereinfacht gesagt berechnen als Differenz des risikofreien Zinssatzes und der erwarteten Rendite eines Marktportfolios. So kann etwa das Marktrisiko von Aktiengesellschaften jederzeit berechnet werden. Für Immobilien hingegen ist das Marktrisiko schwieriger zu quantifizieren, weil eben erhöhte Unsicherheit über die erwartete Rendite besteht. Das Markt­risiko wird darum in Bewertungen oft als Zu- oder Abschlag auf den Diskontierungssatz beschrieben.

Im Immobilienmarkt gibt es verschiedene Perspektiven von Unsicherheit. Wie sehen diese aus und zwischen welchen Perspektiven haben sich die Konflikte in der Corona-Krise verschärft?

Die Investoren schauen auf die unsichere Entwicklung des Mietertrages, haben Angst vor einer Stagnation. Bauherren hingegen sind vor allem mit Unsicherheit belastet, wenn es um die Entwicklung der Baukosten und die Vermietbarkeit von Gebäuden geht. Käufer und Verkäufer schliesslich schauen auf die Preise, deren Entwicklung nun schwieriger vorauszusagen ist. Anfänglich wurde ein Preiscrash erwartet; er ist nicht eingetreten. Bestehende Konflikte zwischen diesen unterschied­lichen Sichtweisen haben sich mit ­Corona verschärft. So hat beispielsweise die erwähnte Thematik möglicher Mietzinsreduktionen zwischen Eigen­tümern und Mietern für mehr Differenzen gesorgt. Wobei ich bei dieser Diskussion finde, dass ein Unternehmer willens und fähig sein soll, gewisse Risiken zu tragen. Und ein solches ist eben auch die CoronaKrise mit all ihren Unsicherheiten und ständigen Veränderungen. 

Regelmässige Zoom-Leserinnen und -Leser ­dürften Martin Frei (*1946) vor allem als Autor mit spitzer Feder aus der Rubrik «Prüfsofa» ­kennen. Frei hat an der ETH in Zürich Architektur studiert und ebenfalls an der ETH ein Nach­diplom­studium in Betriebswissenschaften absolviert. Er arbeitete zunächst als Architekt und stieg dann in die Bankenbranche ein, wo er unter anderem während neun Jahren für die UBS tätig war. 1993 machte sich Frei selb­ständig mit einer Beratungsfirma für Lösungen für ­Immobilienfragen, wie es auf der Firmenweb­site noch heute heisst. Bewertungen gehörten von Beginn an zur Tätigkeit des ­Unternehmens und wurden mit der Zeit zum Schwerpunkt, wobei Frei unter anderem als ­Gerichtsgutachter wirkte. Heute hat sich Frei weitgehend aus dem ­Geschäftsleben zurück­gezogen und berät noch einzelne ­Kunden. Er lebt in Zürich und in ­Frankreich. (upz)