Gleich zu Beginn eine private Frage: Wie nachhaltig leben Sie?

Christine Eugster: Ich versuche, mich saisonal und regional zu ernähren und esse viel weniger Fleisch als früher. Wenn ein Ziel mit dem Zug gut erreichbar ist, lasse ich das Auto stehen. Ob wir mit dem Flugzeug in die Ferien reisen, wird mit der ganzen Familie diskutiert und abgewägt.

Roman Ballmer: Als Mieter in einer Minergie-Liegenschaft und reger ÖV-Nutzer sieht mein ökologischer Fussabdruck vermutlich in Ordnung aus, wobei die Wahl des Fortbewegungsmittels mitunter auf unseren zentralen Bürostandort zurückzuführen ist. Mein Bewusstsein für Nachhaltigkeitsthemen hat in den letzten Jahren klar zugenommen.

Stefan Fahrländer: Wahrscheinlich bin ich etwa Schweizer Durchschnitt: Mein Wohnflächenkonsum ist zu gross, mein Energieträger noch schmutzig, die Grundsubstanz aber 250 Jahre alt. Ich habe keine Ferienwohnung, dafür eigenen Wald, in dem ich CO2 binde. Ich esse weniger und nur einheimisches Fleisch, achte auf lokale Handwerker und Baustoffe und fliege in die Ferien. Die Thematik ist auf dem Radar. Meine Kinder erinnern mich praktisch täglich daran.

Die Nachhaltigkeit ist auch in Bewerterkreisen zum ­grossen Thema geworden. Wo zeigt sich das? 

Roman Ballmer: Das Thema ist in der gesamten Immobilienbranche omnipräsent, vom Entwickler über den Anleger bis hin zu Hypothekarinstituten. Entsprechend treffen viele Kunden­anfragen dazu ein. Auf der einen Seite ist dies positiv zu werten, es scheint sich nun tatsächlich etwas zu bewegen. Auf der anderen Seite gilt jedoch festzuhalten, dass vielfach erst die Bestandes­aufnahme erfolgt.

Christine Eugster: In unseren Geschäftsstellen in Deutschland ist das Thema durch die EU-Taxonomie und die Offenlegungspflichten sogar zentraler als bei uns. Doch auch wenn der regulatorische Druck in der Schweiz noch weniger gross ist, gewinnt das Thema bei unseren Kunden enorm an Bedeutung. Die Nachfrage nach unseren CO2-Modellierungen oder ESG-Ratings hat in den letzten Jahren stark zugenommen.

Stefan Fahrländer: Nachhaltigkeit war bei uns immer ein grosses Thema und ist immer in die Bewertungen eingeflossen; im ökonomischen und sozialen Sinn sowieso. Und auch die Ökologie hat seit den 1980er-Jahren ihren Stellenwert, wobei dieser auch mit den jeweiligen Energiepreisen korreliert.

Liegenschaften verursachen in der Schweiz 30% des CO2-­Ausstosses – wie präsent ist diese Zahl in Ihrem Alltag?

Stefan Fahrländer: Gar nicht, die Thematik hingegen sehr.

Roman Ballmer: Der Fokus wird leider häufig auf die Emissionen im Betrieb gelegt, womit Neubauobjekte als Heilsbringer erscheinen. Dabei wären die grössten CO2-Reduktionen mit geeigneten Massnahmen im bestehenden Gebäudepark zu erzielen. In diesem sind bereits gewaltige Mengen grauer Energie gebunden, die für Herstellung der Baustoffe, Transport und Bau eingesetzt wurden.

Christine Eugster: Das sehe ich auch so. Neubauten haben aufgrund guter ­Dämmung einen viel tieferen Wärmebedarf und werden vorwiegend mit erneuer­barer Energie beheizt. Wenn aber auch die graue Energie von Ersatzneubauten berücksichtigt wird, schneiden diese gegenüber Sanierungen be­­züglich CO2-Bilanz häufig weniger gut ab.

Wo fliessen Aspekte der Nachhaltigkeit bereits heute schon in Ihre Bewertung ein?

Stefan Fahrländer: Bei sämtlichen Parametern fliessen die drei Säulen der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie und Soziales) mit ein. Schon immer.

Christine Eugster: Bei unseren hedonischen Modellen für Wohneigentum sehen wir, dass die Qualität der Gebäudehülle einer Immobilie heute preisrelevanter ist als noch vor einigen Jahren. Umgekehrt hat der Preiseffekt von Minergie-Zertifikaten abgenommen. Dies hängt damit zusammen, dass mittlerweile auch konventionelle Neubauten viele Aspekte der Minergie-Anforderungen erfüllen.

Roman Ballmer: Seit jeher fliessen zahlreiche Nachhaltigkeitsaspekte ein. Neben dem Objekt selber betrifft dies auch Lagefaktoren wie die Nähe zum ÖV oder soziale Dimensionen wie die Sicherheit oder ein attraktives Wohnumfeld.

«Ein Haus mit einer fossilen ­Heizung ist in Zukunft klar weniger Wert als ein Gebäude mit nach­haltiger Technik». Das sagt der ­Zürcher Regierungsrat Martin Neukom. Sind Sie gleicher Meinung?

Christine Eugster: Dieser Aussage würde ich zustimmen. Bei Häusern mit alten Ölheizungen müssen Kosten für den Systemwechsel eingepreist werden. Dadurch, dass viele institu­tionelle Immobilieneigentümer Nachhaltigkeitsziele zu erreichen haben, können «nicht nachhaltige» Objekte zunehmend zu «Stranded Assets» werden, die man nicht im Portfolio haben möchte. Damit sinkt die Zahlungsbereitschaft für solche Immobilien.

Stefan Fahrländer: Das stimmt. Allgemein geht es um Wertminderung von nicht nachhaltigen Gebäuden und nicht um eine Wertsteigerung von nachhaltigen Liegenschaften. Letzteres ist schon eingepreist.

Roman Ballmer: Es ist tatsächlich davon auszugehen, dass sich das Käuferverhalten in Bezug auf Nachhaltigkeits­themen in den kommenden Jahren verändern wird. Während aktuell vor allem die energieeffizienten Gebäude hochgelobt werden, erwarte ich ebenfalls eher eine Abstrafung von Objekten mit Sanierungsstau.

ESG

Der Begriff ESG bezeichnet die betrieblichen Standards in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. In anderen Worten, den freiwilligen Beitrag der Wirtschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung, der über die gesetzlichen Anforderungen ­hinausgeht. 2006 riefen die Vereinten Nationen die Wirtschaft zu einer solchen freiwilligen Selbstverpflichtung bezüglich der Integration von ESG-Faktoren in Investmententscheidungen auf. Diesem Aufruf sind viele gefolgt: ­Gemäss einer Studie der UBS (2021) betrachten drei Viertel der weltweiten Investoren ESG-Faktoren heute als wich­tige Markttreiber. 

Mit der Nachhaltigkeitsdiskussion gewinnt das Thema «Environmental, Social and Corporate Governance» (ESG, siehe Box) an Bedeutung. Wie stark verändert sich die Bewertung von Immobilien durch diese Faktoren?

Christine Eugster: Grundsätzlich waren Nachhaltigkeitsaspekte schon immer Bestandteil einer Bewertung, jedoch wird der Wert einer Immobilie heute noch umfassender beurteilt. Wir stellen eine starke Nachfrage nach ESG-Due-Diligence fest. So wird die Nachhaltigkeit im Rahmen einer Immobilien-Akquisition im Detail geprüft und wir nehmen deutlich mehr GEAK-Zertifizierungen (Gebäudeenergieausweis der Kantone), CO2-Berechnungen oder ESG-Beurteilungen vor als vor ein paar Jahren.

Stefan Fahrländer: Naja, da werden gerne Dinge vermischt. E und S ergeben die fehlenden Säulen des umfassenden Nachhaltigkeitsreportings und G betrifft die kommerziellen Akteure. In der Berichterstattung werden insbesondere E und S künftig zusätzlich beziehungsweise verstärkt ausgewiesen.

Roman Ballmer: Neu ist lediglich das Bedürfnis, eine Vielzahl von Faktoren explizit auszuweisen, was insbesondere bei Portfolio-Analysen einen beträchtlichen Aufwand bei der Erfassung auslösen kann. Mit dem reinen Messen ist jedoch noch nichts bewirkt. Gleichzeitig stellt sich die Frage der Standardisierung und die Sicherstellung der Vergleichbarkeit. Am Auftrag einer Immobilienbewertung, nämlich der Einschätzung der Zahlungsbereitschaft im Markt, ändert sich nichts.

Auch bei ESG gilt das Bewertergeheimnis: Daten, Daten, Daten. Wie stellen Sie sicher, auf den ­richtigen und relevanten Daten ­aufzubauen?

Christine Eugster: Wir pflegen selbst umfassende Datensätze, etwa Angaben zu Immobilienpreisen, -mieten und -kosten sowie Gebäudemerkmalen. Daneben beziehen wir öffentlich verfügbare Daten, so zum Beispiel Informationen aus dem Gebäude- und Wohnungsregister (GWR), Informationen zu Naturgefahren oder kleinsträumliche Daten zur Vegetationshöhe. Open-data-Quellen werden glücklicherweise kontinuierlich ausgebaut.

Roman Ballmer: Auch wir haben zahlreiche Datenpools selber, mithilfe unserer Kunden oder externer Quellen aufgebaut. Die Verwendung robuster Analysekonzepte und statistischer Verfahren erlaubt uns, die Qualität und Relevanz der Daten laufend zu prüfen. 

Stefan Fahrländer: Die Themen sind ja bekannt und man gibt sich Mühe, die relevanten Daten flächendeckend bereitzustellen, seit 2006. Teilweise sind dies einfache Messdaten, teilweise Ergebnisse komplexer Modelle. Es ist aber zu bedenken: Mit Datenerfassung wird noch kein einziges Kilo CO2 eingespart; Pragmatismus ist gefordert.

Zum Schluss: Welchen Einfluss ­werden zukünftige politische ­Entscheide auf die Bewertung von Immobilien haben?

Roman Ballmer: Die politischen Rahmenbedingungen spielen eine entscheidende Rolle und die Geschwindigkeit des Wandels wird stark an das monetäre Anreizsystem gekoppelt sein. 

Christine Eugster: Nachhaltig betriebene Liegenschaften sind weniger den politischen Risiken ausgesetzt, die sich als Folge von veränderten Regulierungen ergeben können.

Stefan Fahrländer: Ganz klar: Nicht-Nachhaltigkeit wird künftig stärker bestraft.

Christine Eugster

ist Partnerin beim Immobilien­beratungsunternehmen Wüest Partner in der Division «Data, Analytics & ­Technology». 

Dr. Stefan Fahrländer 

ist Gründer von Fahrländer Partner Raumentwicklung und Präsident des Verwaltungsrats des Schweizerischen Instituts für Immobilienbewertung
SIREA.

Roman Ballmer

ist stellvertretender CEO bei IAZI und leitet seit 2013 den Bereich der hedonischen Produkte.