Giovanni A. Sena, Immobilienbewerter sind nicht vor psychologischen Einflüssen gefeit. Wie fliesst das Thema in die Ausbildung mit ein?
Es fliesst in sämtliche SIREA-Lehrgänge direkt oder indirekt mit ein. Als Dozenten legen wir grossen Wert darauf, die Teilnehmenden für potenzielle Wahrnehmungsverzerrungen zu sensibilisieren. Ein zentrales Element ist dabei die bewusste Weitung des sogenannten Inputfächers: Sämtliche wirtschaftlichen, markttechnischen sowie subjektiv geprägten Einflussfaktoren, etwa die Eigentümerschaft, potenzielle Käufer oder spezifische Lageaspekte, werden systematisch geprüft. Erst in einem zweiten Schritt erfolgt die bewertungsrelevante Einordnung: Welche dieser Faktoren beeinflussen den Marktwert tatsächlich und welche nicht? Das strukturierte Vorgehen hilft, externe Einflüsse kritisch zu reflektieren und die Objektivität der Bewertung zu stärken.
Und wie sind die eigenen Emotionen zu gewichten, die ein Bewerter in seine Arbeit mit einbringt?
Eigene Emotionen und persönliche Prägungen spielen in der Bewertungspraxis eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ich empfehle deshalb eine regelmässige Selbstreflexion im Sinne eines inneren Controllings. Dazu gehört, sich bewusst folgende Fragen zu stellen: Bin ich in dieser Situation möglicherweise voreingenommen? Habe ich, bewusst oder unbewusst, Vorurteile gegenüber bestimmten Personen, Institutionen oder Nutzungen? Lasse ich mich durch eine aussergewöhnlich attraktive Lage oder durch eine hohe Marktdynamik beeinflussen?
Die bewusste Analyse der eigenen Wahrnehmung hilft, emotionale Einflüsse frühzeitig zu erkennen und deren Einfluss auf das Bewertungsergebnis zu minimieren. Objektivität beginnt nicht erst bei der Marktanalyse – sondern bei der eigenen Haltung.
Bei welchen Komponenten ist besondere Vorsicht geboten?
Besondere Vorsicht ist bei der Rolle der Auftraggeberschaft geboten. In wessen Interesse erfolgt die Bewertung? Handelt es sich um ein Mandat im Kontext eines Verkaufs? Auf Käufer- oder Verkäuferseite? Oder beispielsweise um eine Erbengemeinschaft mit divergierenden Interessen? In der Praxis zeigen sich bei jedem Mandat potenzielle Einflussversuche auf das Bewertungsergebnis. Diese reichen von gezielten Informationen über gewünschte Wertvorstellungen bis zu unausgesprochenen Erwartungen. Besonders heikel wird es bei Mandaten im privaten oder freundschaftlichen Umfeld. Hier besteht die Gefahr, dass die berufliche Distanz schwindet, was im schlimmsten Fall in Richtung einer Gefälligkeitsbewertung führen kann. Solche Konstellationen erfordern eine besonders klare Rollendefinition und den konsequenten Verweis auf die berufsethischen Standards und Bewertungsrichtlinien.
Welche Kontrollmechanismen können Bewerter in ihre Arbeit integrieren?
In der Praxis hat sich bewährt, die Bewertung – sofern zeitlich möglich – nach der Fertigstellung zunächst ruhen zu lassen und am Folgetag mit frischem Blick kritisch zu überprüfen. Da jedoch häufig unter Zeitdruck gearbeitet wird, ist ein strukturiertes, nachvollziehbares Vorgehen umso wichtiger. In den SIREA-Lehrgängen vermitteln wir hierfür standardisierte Methoden und Hilfsmittel, die eine systematische Plausibilisierung und Kontrolle der einzelnen Parameter ermöglichen. Ein zentrales Element dabei ist der konsequente Vergleich mit aktuellen Marktdaten, sowohl über externe Quellen (zum Beispiel Inserate, Transaktionsdatenbanken usw.) als auch über die eigene Datenbank. Vergleichswerte aus dem direkten Umfeld, etwa ähnliche Liegenschaften in derselben Strasse, können helfen, das Bewertungsergebnis kritisch einzuordnen und zu validieren. Ebenso empfiehlt sich eine strukturierte Vier-Augen-Kontrolle, etwa im Team oder mit einem Sparringspartner, sowie der Einsatz von Checklisten. Transparenz, Dokumentation und interne Nachvollziehbarkeit sind zentrale Pfeiler eines wirksamen Qualitätsmanagements in der Bewertung.
Kann der Leser einer Bewertung feststellen, ob das Ergebnis schlüssig ist?
Auch wenn eine Bewertung formal korrekt und gut dokumentiert ist, bleibt es für nicht fachkundige Leserinnen und Leser oft schwierig zu beurteilen, ob das Ergebnis inhaltlich tatsächlich schlüssig ist. Genau hier zeigt sich die zentrale Bedeutung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit: Die gewählte Bewertungsmethodik, alle relevanten Annahmen, Parameter und Berechnungswege müssen klar erläutert und sachlich begründet sein. Nur so kann auch ein nicht bewertungsaffines Gegenüber das Vorgehen in Grundzügen nachvollziehen. Eine gute Bewertung zeichnet sich daher nicht nur durch ein plausibles Ergebnis aus, sondern insbesondere durch eine konsistente, prüfbare Argumentation.
Welchen Tipp möchten Sie angehenden Bewertern mit auf den Weg geben?
Mein wichtigster Tipp an angehende Bewerterinnen und Bewerter: Hinterfragen Sie das eigene Bewertungsergebnis konsequent, auch dann, wenn es auf den ersten Blick plausibel erscheint. Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, sei es im Rahmen des Vier-Augen-Prinzips oder in einer Fachgruppe, ist enorm wertvoll und trägt zur Qualitätssicherung bei. Ein regelmässiger, fachlicher Austausch unter regional tätigen Bewertungsexperten sollte daher aktiv gefördert werden.
Zur Person
Giovanni A. Sena MRICS ist Inhaber der Sena Estate Invest AG, die auf die ganzheitliche Beratung im Bereich Rendite-Immobilien spezialisiert ist. Der diplomierte Immobilienökonom (MAS Real Estate Management) ist zudem Dozent an der Fachhochschule OST und Mitglied der SIREA-Methodikgruppe.

