Laut Daten des Bundesamts für Statistik wurde Ende Dezember 2018 im Tessin ein Stand von 4800 freien Wohnungen, davon 3900 zur Miete, erreicht – insgesamt 1060 mehr als im Vorjahr. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass in den letzten Jahren davon auszugehen war, dass das Bevölkerungswachstum nicht ausreichen würde, um den neuen Wohnraum zu absorbieren. Es gibt keine Anzeichen für eine Umkehr des Trends in den kommenden zwölf Monaten. Besteht für den Tessiner Wohnungsmarkt daher die Gefahr, sich mit einem merklichen Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nicht nur in Kürze, sondern langfristig konfrontieren zu müssen?
Leerstand ist notwendig
Grundsätzlich benötigt der Immobilienmarkt ein Mindestangebot an leer stehenden Wohnungen. Eine normale Schwankung ermöglicht einerseits, dass Mieter ausziehen und eine ihrenBedürfnissen besser entsprechende Wohnung finden können, und fördert andererseits Renovationen und den Umbau des Wohnraums, die eine gute Leistungsfähigkeit des Marktes garantieren. Der optimale Stand des sogenannten «strukturellen» Leerstands hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter der gesetzliche Rahmen und eventuelle Einschränkungen, welche die Marktreaktionen auf die Änderung des Angebots begrenzen oder verlangsamen (zum Beispiel Planungsvorgaben), aber auch die geänderten Bedürfnisse der Mieter und die Transparenz des Marktes. Während im Ausland Prozentsätze von 5,0 Prozent oft als optimal angesehen werden, lag die Leerstandsquote in der Schweiz immer bei 1,0 Prozent. Trotzdem ist der Schweizer Immobilienmarkt mit einer jährlichen Mietfluktuation von etwa 13,6 Prozent immer sehr leistungsfähig gewesen.
Der «ideale» Leerstand
Die ideale Leerstandsquote gilt als erreicht, wenn der Trend der auf dem Markt geforderten Mietpreise nach einem Zuwachs nicht mehr weiter ansteigt (ausgeglichener Markt). Diese Situation war 2015 gegeben, als nach 15 Jahren des kontinuierlichen Anstiegs die in der Schweiz angebotenen Mietpreise ihren Höhepunkt erreichten und anfingen zu sinken. Der Prozentsatz des Leerstands auf nationaler Ebene lag damals bei 1,2 Prozent, bei rund 1,3 Prozent nach Abzug der Zweitwohnsitzes. Im Tessin wurde Ende 2015 ein Leerstand von 1,0 Prozent (0,8% in der Stadt Lugano) verzeichnet, das heisst ein unter dem nationalen Durchschnitt liegender Wert.
Vom Wohnungsmangel zum Überangebot
Ende 2018, nur drei Jahre später, erreichte der Prozentsatz des Leerstands in der Schweiz 1,7 Prozent (+0,4%), im Tessin 2,2 Prozent (+1,2%) und in der Stadt Lugano 2,4 Prozent (+1,6%), womit die «ideale» Leerstandsquote deutlich überschritten wurde. Aus Wohnungsmangel wurde ein Überangebot. Die Mietpreise sinken.
Die Ursache des zunehmenden Leerstands im Tessin, der erheblich über dem nationalen Durchschnitt liegt, besteht wohl hauptsächlich in der plötzlichen starken Verlangsamung des Bevölkerungswachstums, wegen der Verminderung der internationalen Einwanderung in den Jahren 2017 bis 2018 – wobei der Prozentsatz mit 500 neuen Einwohnern jedoch positiv bleibt – und der zunehmenden Abwanderung in andere Kantone. Ab 2014 ziehen durchschnittlich 800 Personen mehr in andere Kantone als die, die gleichzeitig aus anderen Kantonen in das Tessin ziehen.
Ein wichtiger Anstoss für den bestehenden Wohnraum
Im Tessin standen Ende 2018 2095 mehr Wohnungen leer als 2015, davon 622 in Neubauten und 1473 in bestehenden Gebäuden. Der Überfluss an Wohnungen auf dem Markt betrifft somit im Vergleich stärker den Gebäudebestand als die Neubauten. Auf Grundlage der Immobilienannoncen im Juni 2019 liegen die Mietpreise der auf dem Markt angebotenen neuen Wohnungen durchschnittlich über denen für bestehende Wohnungen, allerdings ist der Unterschied in vielen Regionen eher mässig. In der Stadt Lugano kostet eine neue Wohnung durchschnittlich CHF 1900 im Monat (ca. 86 m²), während bestehende Wohnungen für CHF 1510 im Monat angeboten werden (rund 90 m²). Dieser Aufpreis von CHF 390 im Monat (25%), der in Vororten noch niedriger ist, scheint auszureichen, um Mieter in neue Wohnungen zu locken, deren Ausführungen und Komfort den heutigen Anforderungen entsprechen. Für Eigentümer bedeutet dies eine heikle Tätigkeit zur Modernisierung des Wohnraums mit niedrigen Investitionsmargen.
Langsame Anpassung an die neuen Marktbedingungen
Bekannterweise passt sich der Baumarkt den Marktbedingungen nur sehr langsam an. Grund dafür sind vor allem die langen Entscheidungsprozesse und die Zeiten zur Umsetzung. Dies erklärt auch, warum sich die derzeitige Bauproduktion dem Rückgang der Nachfrage noch nicht angepasst hat. Unter den heutigen Bedingungen ist es wahrscheinlich, dass der Prozess zur Anpassung noch ziemlich lange anhalten wird. Erstens erzeugt der Immobilienmarkt trotz des Verlustes durch Leerstand noch immer interessante Erträge im Vergleich zu anderen Investitionsmöglichkeiten. Zweitens bleiben die Aussichten auf ein Wirtschaftswachstum in vielen Regionen erhalten, was weitere Bauvorhaben fördert. Solange Gelegenheiten für Immobilienplanungen in gut erschlossenen Lagen bestehen, wird die Bautätigkeit unabhängig vom Prozentsatz des Leerstands stabil bleiben.
Dies ist eine Herausforderung für den bestehenden Wohnraum, der innerhalb eines verstärkten Konkurrenzkampfes erneuert werden muss. Gleichzeitig eröffnen sich nach über einem Jahrzehnt des strukturellen Wohnungsmangels neue und interessante Möglichkeiten für Mieter.
Fabio Guerra
Partner bei Wüest Partner AG und Geschäftsführer Standort Lugano; begleitet Eigentümer und Investoren rund um den Lebenszyklus von Liegenschaften und Immobilienportfolien.