20
Prozent Differenz

25
Prozent Spannweite

Integrität, Ehrlichkeit, Verantwortung, Unabhängigkeit, Sorgfalt, Objektivität. Danach sollen Immobilienbewerter laut SIV-Standesregeln ihr Handeln ausrichten. Doch helfen diese recht abstrakten Begriffe, wenn ein Bewerter im Berufsalltag vor einer heiklen Entscheidung steht? «Dass sich ein Berufsstand einen ethischen Kodex gibt, ist zu begrüssen. Doch bei der Behandlung konkreter Probleme gibt es geeignetere Ansätze als einen Moralkatalog», sagt Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik an der Universität St.Gallen (HSG).

Die moderne Ethik, erklärt Beschorner, behandle moralische Dilemmas mit einfachen Gedankenexperimenten: Erstens soll man sich in die Perspektive jener versetzen, die von der eigenen Entscheidung betroffen sind: Würde ich so entscheiden, wenn ich der Betroffene bin? Zweitens soll man sich fragen, ob diese Entscheidung ein Gesetz begründen könnte: Kann ich wollen, dass alle so handeln? Und drittens prüft man, ob die Entscheidung begründbar ist: Wie würde ich sie gegenüber Vorgesetzten, meiner Familie oder in einem Medieninterview rechtfertigen? Dieser Ansatz scheint auf den ersten Blick banal. «Doch er ist universell anwendbar, gerade bei unbekannten Problemen und Entscheidungen», sagt Beschorner.

Standesregeln sind nur Soft Law

Die Verantwortung des Immobilienbewerters, nach ethischen Rich­tlinien zu handeln, ergibt sich unter anderem aus dessen zentraler Rolle in seiner Branche. «Die Macht des Bewerters ist gross, weil er bei Immobi­liengesellschaften die weitaus wichtigste Vermögensanlage bewertet. So hat er direkten Einfluss auf den Marktwert dieser Unternehmungen», sagt ­Daniel Zaugg, Leiter des Sektors Immobi­lien bei Ernst & Young Schweiz.

Für kotierte Unternehmen in der Schweiz ist die Anwendung der Discounted Cashflow-Methode bei der Bewertung vorgeschrieben. «Diese Methode wird seit Jahren angewandt und verfeinert, das Modell ist akademisch richtig. Dennoch bleibt bei der Anwendung ein gewisser Prozentsatz der Einschätzung dem Bewerter überlassen, da dieser unter anderem Annahmen zum Diskontsatz oder zur Marktmiete trifft», sagt Zaugg. Darum konzentriere sich sogar in grösseren Firmen relativ viel Macht auf den leitenden Bewerter. «Es wäre zu begrüssen, wenn es dazu Regelungen gäbe. Angebracht wäre aus Sicht der Unabhängigkeit etwa, dass ein leitender Bewerter in einem Turnus von fünf oder sieben Jahren gewechselt wird», sagt Zaugg. Zwar gebe es Branchenstandards wie den Swiss Valuation Standard oder international die Standesregeln des Royal ­Institute of Chartered Surveyors. Diese sind aber weitgehend Soft Law, das nicht von einer staatlichen Institution umgesetzt wird. Zaugg betont, dass sich die Immobilienbewertung in der Schweiz extrem professionalisiert habe: «Als Revisionsfirma machen wir gute Erfahrungen. Neben der verbesserten Ausbildung der Bewerter hat die Menge der Daten und jene der Interpreta­tionstools mit der Digitalisierung zugenommen.»

Der Konflikt des Bewerters

Die Digitalisierung sei der Qualität von Bewertungsgutachten zuträglich, «da es weniger oder keine Medienbrüche gibt und idealerweise nur eine Datenquelle vorhanden ist», sagt Stephan Kloess, selbstständiger Consultant für Immobilieninvestoren sowie Dozent an der Universität Zürich, am Institut für Finanzdienstleistungen Zug sowie an der TU Berlin. «Am Ende ist die Einschätzung des Bewerters entscheidend und nicht jene der Maschine», sagt Kloess.

Wenn zwei Bewerter das gleiche Objekt mit derselben Methode bewerten, sei eine Differenz von bis zu zwanzig Prozent möglich. Grossen Einfluss auf die Bewertung haben alle Kosten- und Ertragsposi­tionen sowie die Wahl der Verzinsungsgrössen. «Die Bandbreiten für die angenommenen Werte sind signifikant», sagt ­Kloess. So könnten beispielsweise angenommene Sanierungskosten nach den Richtlinien des SIA für Grobkostenschätzungen eine Spannweite von bis zu 25 Prozent aufweisen. «Trotz dieser Streuung ist vom Bewerter gefordert, einen möglichst genauen und nachvollziehbaren Marktwert zu definieren. Mit diesem Konflikt, aber auch mit der damit verbundenen Verantwortung, muss er umgehen können», sagt Kloess.

Für eine seriöse Immobilienbewertung sei zur Qualitätssicherung das Vier- oder besser Sechs-Augen-Prinzip zwingend. Der Spielraum und die Verantwortung des Bewerters sind in der Branche bekannt – und können zu Diskussionen führen, etwa zwischen dem Bewerter und potenziellen Investoren. «Solche Diskussionen sind bis zu einem gewissen Punkt normal. Fühlt sich der Bewerter allerdings nur ansatzweise unter Druck gesetzt, sollte er auf seine Unabhängigkeit verweisen, schliesslich testiert er seine Jahresendbewertungen. Von ‹Gefälligkeitsgutachten› ist abzusehen», sagt Kloess. Die Wahrung der Unabhängigkeit sei ein zentraler Wert des Berufsstandes.