Wenn das gleiche Objekt von verschiedenen Bewertenden geschätzt wird, führt das häufig zu unterschiedlichen Resultaten. Das hat damit zu tun, dass die beauftragten Expertinnen und Experten ihre eigenen Wertvorstellungen entwickeln. Viele der für die Bewertung angewendeten Parameter liegen im Ermessen der beauftragten Person.
In der Bewertungsliteratur gibt es nur sehr wenige Angaben darüber, wie weit das Ermessen der Bewertenden gehen darf. Einer, der sich dazu äussert ist Francesco Canonica in seinem Buch «Die Immobilienbewertung». In der Praxis wird demnach eine Abweichung von +/–10% von einem als richtig beurteilten Wert als Schätzungstoleranz bezeichnet. Diese Bewertungstoleranz wird beispielsweise von der amtlichen Bewertung des Kantons Bern bei der Notengebung (Bauqualität, Komfortstufe, Wohnlage usw.) seit vielen Jahren so angewandt.
CAS-Studierende geben Aufschluss
Ein Vergleich der Semesterarbeiten des CAS Immobilienbewertung 2019/20 der Fachhochschulen BFH (Bern), HSLU (Luzern), FHNW (Nordwestschweiz), FHS (St. Gallen, heute Fachhochschule OST) zeigt, wie stark die Annahmen der Studierenden bei einigen wichtigen Bewertungsparametern voneinander abweichen.
Das Bewertungsobjekt ist ein neungeschossiges, einseitig angebautes Wohn- und Geschäftshaus in Luzern. Es wurde im Jahr 1948 erbaut. Im Laufe der Jahre haben die Besitzer umfangreiche Instandhaltungs- und Instandsetzungsarbeiten ausgeführt, das Dach aufgestockt und einen Lift angebaut.
Die 117 Studierenden erhielten den Auftrag, ein vollständiges Marktwertgutachten über die Liegenschaft zu erstellen. Es entstanden 101 Gutachten, die die Prüfungskommission SIREA anhand von über 100 genau definierten Kriterien bewertete.
Anlässlich der Korrekturarbeiten wurden von allen Arbeiten die Parameter Marktwert, Mietwert, Nettozinssatz und Technische Entwertung erhoben, um die Durchschnittsergebnisse der einzelnen Klassen miteinander vergleichen zu können. Dies, um bei grossen Unterschieden zwischen den einzelnen Klassen die Ursachen mit den Dozierenden zu ergründen.
Wie wir in Tabelle 1 sehen, sind die Abweichungen recht gross. Die grösste Abweichung ergibt sich bei der Technischen Entwertung, die kleinste bei der Festlegung des Mietwerts. Bei dieser Zusammenstellung muss berücksichtigt werden, dass alle Arbeiten der Studierenden, auch die von der Prüfungskommission zur Nachbesserung zurückgewiesenen Arbeiten (19 Stück), in der Zusammenstellung berücksichtigt wurden.
Vergleich der besten Arbeiten
Um ein genaueres Bild zu erhalten, haben wir für Tabelle 2 die Werte der zwölf besten Arbeiten erhoben. Berücksichtigt sind dabei alle Arbeiten mit der Schlussnote >5 der Hochschule Luzern (HSLU). In der Tabelle sind die Parameter Marktwert, Mietwert, Nettozinssatz, jährliche Kosten, Instandhaltungskosten, Instandsetzungsrate und Technische Entwertung aufgelistet.
Innerhalb der Schätzertoleranz
Beim Marktwert ergibt sich eine Abweichung vom Mittelwert von CHF +/–349 000 (= 6,9%). Diese Abweichung liegt innerhalb der Schätzertoleranz von +/–10%. Die grössten Abweichungen vom Mittelwert ergeben sich bei den jährlichen Kosten (jährliche Betriebskosten, Ertragsverluste/ Mietzinsrisiko, Verwaltungskosten) und den Instandhaltungskosten. Hier zeigen sich die unterschiedlichen Wertvorstellungen der Bewertenden am deutlichsten. Wie hoch ist das zukünftige Mietzinsrisiko? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ertragsverluste? Wie hoch sind die zukünftigen Instandhaltungskosten dieser zu schätzenden Baute?
Auch die Abweichungen vom Mittelwert bei der Instandsetzungsrate (+/–14%) und bei der Technischen Entwertung (+/–13%) sind recht hoch. Auch hier spiegeln sich die unterschiedlichen Wertvorstellungen der Bewertenden wider. Wie hoch ist die Gesamtlebensdauer einer Bauteilgruppe? Wie hoch ist ihre Restnutzungsdauer? Wie hoch ist ihr technisches Alter? Die Festlegung dieser Werte scheint Ansichtssache.
Der Mittelwert entspricht ziemlich genau dem Marktwert der Liegenschaft.
Besser mit Frankenbeträgen arbeiten
Am kleinsten sind die Abweichungen bei der Festlegung des Nettozinssatzes und beim Mietwert. Extreme Werte, die ausserhalb der Schätzertoleranz liegen und falsch sind, ergeben sich vielfach, wenn sich die Bewertenden, um den Bruttozinssatz festzulegen, bei den Zuschlägen für die Kosten zum Nettozinssatz (Betriebskosten, Instandhaltung, Ertragsverluste, Verwaltungskosten) zu sehr auf Prozentzahlen und zu wenig auf die dahinter liegenden CHF-Beträge fokussieren. Besser ist es, sich zuerst zu überlegen, wieviel Geld jährlich zur Deckung dieser Kosten gebraucht wird. Anschliessend können Bewertende diese Frankenbeträge in Prozente umrechnen. Alternativ können sie zur Berechnung des Ertragswerts die Nettokapitalisierung anwenden. Um den Nettoertrag der Liegenschaft zu ermitteln, müssen bei dieser Berechnungsart die Kosten in jedem Fall in Frankenbeträgen festgelegt werden. Ebenfalls sollten Schätzerinnen und Schätzer bei der Festlegung der Technischen Entwertung die errechneten Frankenbeträge der einzelnen Bauteilgruppen plausibilisieren. Wenn alle Bewertende diese Vorgehensweise wählen, werden die Differenzen kleiner.
Wenn man die Mittelwerte Marktwert, Mietwert, Nettozinssatz und Technische Entwertung der Tabellen 1 und 2 miteinander vergleicht, macht man eine erstaunliche Feststellung: Diese Werte weichen kaum voneinander ab. Die Differenzen betragen von Tabelle 1 (Mittelwert aller Studierenden inklusive den 19 ungenügenden, zur Nachbesserung zurückgewiesenen Arbeiten) zu Tabelle 2 (Mittelwert der zwölf besten Arbeiten der HSLU): Marktwert +0,04%, Mietwert +2,3%, Nettozinssatz identisch, Technische Entwertung –1,4%.
Verkaufspreis fast genau gleich
In der Vergangenheit konnte die Prüfungskommission verschiedentlich feststellen, dass, wenn ein bei einer Semesterarbeit bewertetes Objekt kurz vor oder nach der Bewertung verkauft wurde, der gehandelte Kaufpreis ziemlich genau dem Mittelwert der Marktwerte aller Semesterarbeiten entsprach.
Die Erkenntnis daraus: Wenn genügend viele Bewertungen vorliegen, entspricht der Mittelwert dieser Bewertungen ziemlich genau dem Marktwert der Liegenschaft. Die unterschiedlichen Wertvorstellungen beziehungsweise Ansichten der verschiedenen Bewertenden heben sich gegenseitig auf. Dazu kommt: Je mehr Erfahrung und je bessere Marktkenntnisse zwei Bewertende haben, desto näher liegen ihre Ansichten beieinander.
Beat S. Brunner
Ehemaliger Präsident Prüfungskommission SIREA (2008–2020), Gerichtsexperte im Fachgebiet der Immobilienbewertung ISO 17024/SEC 04.01