Ein so weit gewichtiges Werk also, zumindest was die physikalischen Eigenheiten anbelangt. Doch zählen ja bekanntlich bei Büchern wie bei Menschen die inneren Werte, und wir wollen diese erkennen und hoffentlich würdigen dürfen. Doch Vorsicht, und Bitte um Nachsicht: Einem Druckwerk von diesem Umfang lässt sich – bei Lichte betrachtet – nicht in den wenigen Zeilen eines Prüfsofas gerecht werden. Der Rezensent wird also zu ­einer Art Rosinenpicker (wie es Schweizern ja auch in der Europapolitik nachgesagt wird) und pickt querbeet durch die Seiten.

Geometrisches Modell – zumindest originell

Das Schweizerische Schätzerhandbuch in seiner fünften, überarbeiteten und erweiterten Auflage scheint, stärker als frühere Ausgaben, eine Handschrift zu tragen, nämlich jene des Präsidenten des SVKG. Dagegen ist nichts einzuwenden, glänzen doch die Autoren dieses Werkes leider durch Anonymität, warum auch immer. Nebst dem Vorwort steuert Herr Präsident dem Buch – und dem Schweizerischen Bewertungsbrauchtum – gar eine neue Bewertungsmethode zu: das geometrische Schätzmodell. Geometrisch tönt natürlich gut, nach exakter Wissenschaft. Gerhard Roesch, dieser Präsident also, hat ja immerhin 2018 seine Dissertation «Die Geometrie der Immobilienbewertung: ein geometrisches Schätzmodell zur Bestimmung und Plausibilisierung von Immobilienmarktwerten auf Grundlage der modernen neoklassischen Werttheorie» an der Universität Stuttgart dazu verfasst. Der Ansatz ist zumindest originell, ob er im helvetischen Bewertervölklein auch Anhänger findet, wird sich weisen. Man könnte ihn auch als neuen Versuch zur Ehrenrettung des Mischwertes erklären, umso eher, als in diesem Schätzerhandbuch keine Gelegenheit ausgelassen wird, diese Rezeptur aus Sach- und Ertragswert zu würdigen und Kritik an ihm zu kontern. Siebzehn Seiten des Buches sind ihm und der ihm nahestehenden Mittelwertmethode gewidmet. Anderseits wird im Kapitel zum «Swiss Valuation Standard» wortreich beklagt, dass in diesem die Mischwertmethode «abqualifiziert» werde. Die übrige Kommentierung des SVS beschränkt sich hauptsächlich darauf, die internationalen Bewertungsstandards (IVS, RICS) als in der Schweiz kaum anwendbar zu deklarieren, da bei uns zu wenig Marktdaten verfügbar wären.

Kein Wort über «highest and best use»

Erstaunlicherweise wird im Schätzerhandbuch auf die International Financial Reporting Standards (IFRS) unter Wertermittlungsmethoden kaum eingegangen, noch sind sie im Literaturverzeichnis genannt. Diese sind doch immerhin die Bewertungsgrundlage der grössten institutionellen und börsenkotierten Immobiliengesellschaften in der Schweiz. Die im Schätzerhandbuch gemachte Begründung dazu, der Mangel an Marktdaten in der Schweiz, ist zwar nicht völlig von der Hand zu weisen, aber wer die IFRS oder die IVS wirklich kennt, weiss natürlich, dass in den IFRS 13 klar festgelegt ist, wie bei einem Mangel an Marktdaten vorzugehen ist, um dennoch den internationalen Bewertungsnormen zu entsprechen. 

Die Normen IAS 40 und 16 werden zwar erwähnt, aber so oberflächlich, dass nicht einmal das doch sehr wesentliche Prinzip des «highest and best use» angesprochen wird. Dabei hat das Bundesgericht dieses immerhin bereits 1987 als beachtlich erklärt. Demnach stellt der Verkehrswert den Wert dar, den ein Grundstück aufgrund der bisherigen Nutzung oder ­einer möglichen besseren Verwendung für einen beliebigen Käufer aufweist (BGE 113 Ib 39), was wenig anderes ist, als «highest and best use».

Literaturkenntnis, oder zumindest -kommentierungen, scheinen ohnehin ein gewisser Schwachpunkt des Schätzerhandbuches zu sein, das wird nur schon klar, sieht man das Literaturverzeichnis durch. Genannt sind etwa Wolfgang Naegeli mit der fast schon bibliophilen ersten Ausgabe von 1975 wie auch eine ganze Reihe von Werken (SWISS GAAP FER 2010, RICS 2012, Kleiber et al 2002, Fierz 2011), von welchen aktuellere Auflagen vorliegen. Also etwas verstaubte Literatur, und vor allem fehlen die auch für die Schweiz wesentlichen Werke der angelsächsischen Literatur; dass Roesch selbst seine fünf Publikationen aufführt, verzeihen wir ihm. Europäische Normen (wie TEGOVA) oder schweizerische Verordnungen oder Richtlinien (wie Kollektivanlagengesetz oder Kollektivanlagenverordnung) etwa scheinen unbekannt zu sein.

Das Buch ist ein nützliches Nachschlagewerk und wird im Bücherregal wohl nicht verstauben.

Demselben Irrtum erliegen

Im Kapitel «Baurecht» sticht dem kritischen Leser wie schon in der Ausgabe von 2012 des Schätzerhandbuches der «Grundsatz» ins Auge, wonach die Summe der Marktwerte des baurechtsbelasteten Landes und der im Baurecht stehenden Baute nicht grösser sein kann als der Marktwert der gleichen Liegenschaft ohne Baurechtserrichtung (S. 258). Diesem Irrtum ist schon ­Canonica («Die Bewertung von Baurecht, Nutzniessung und Wohnrecht», 2015) erlegen. Dieser fügt dort immerhin an, dass bei «unfairen» Vertragsbedingungen es auch anders als im Grundsatz sein könne. Er nennt dazu solche, wo als Folge der vertraglichen Baurechtszinsregeln für eine der Parteien «untragbare Zustände» entstehen. Da kann nämlich, wer hat es nicht schon erlebt, das Baurecht durchaus wertvoller werden als es der «Grundsatz» erlauben würde.

Trotzdem: ein nützliches ­Nachschlagewerk

Zuhanden angehender Gerichtsgutachter ist zum entsprechenden Kapitel im Schätzerhandbuch darauf hinzuweisen, dass glücklicherweise nicht alle Gerichte schon im Vorherein regeln wollen, wann der Gutachter seine Arbeit abliefern wird und wie hoch seine Vergütung sei. Es wäre ja auch vermessen, dies zu wissen, bevor die oft umfangreichen Akten und Tatsachen eines Falles durchgearbeitet sind.

Dünn ist der Inhalt zum Residualwertverfahren. Vermisst wird hier insbesondere der Hinweis, dass dafür der Rechnungsgang mittels Discounted Cash Flow geeignet ist, können doch dabei die zeitlichen Abläufe des Planungs-, Bau- und Vermarktungsvorgangs rechnerisch am klarsten abgebildet werden. Und es wird auch offensichtlich, wie viele Annahmen zu treffen sind, welche dieses Bewertungsverfahren mit sich bringen. Etwas mehr Inhalt – oder zumindest Literaturhinweise – wünschte man sich auch zum Thema des Fluglärms. Dieser hat immerhin in den letzten Jahrzehnten zehntausende von Grundeigen­tümer zumindest buchhalterisch ärmer gemacht, den Gerichten eine ebenso grosse Zahl an Verfahren und Legionen von Bewertungsfachleuten Arbeit beschert – nicht nur den Hedonikern.

Insgesamt ist die Ausgabe 2019 des Schweizerischen Schätzerhandbuchs umfangreicher und besser strukturiert geworden, es ist mit seinen zahlreichen Tabellen ein nützliches Nachschlagewerk. Es wird im Büchergestell des einfachen Bewerters und Rosinenpickers nicht verstauben.

Martin Frei

MSc ETH in Architektur / SIA, MAS ETH in Management, Technology and Economics / BWI, Zürich