Die Welt lebt seit Anfang 2020 wegen der Corona-Krise in einem Zustand der gesteigerten Unsicherheit. Auch die Immobilienmärkte wurden im Frühling 2020 durcheinandergewirbelt. «Als Bei­ spiel dafür sind die Transaktionen bei Beginn der verschiedenen Lockdowns weltweit praktisch auf null gesunken», sagt Roland Füss. Er ist Professor für Real Estate Finance am Schweizeri­schen Institut für Banken und Finanzen an der Universität St.Gallen (HSG). Füss hat mit zwei weiteren HSG­-For­schenden die Resultate von rund 50 international publizierten, wissenschaft­lichen Artikeln zu  den Auswirkungen der Corona-Krise auf den Immobilien­markt zusammengefasst.¹ «Verschiedene Sektoren dieses Marktes wurden von Corona unterschiedlich getroffen. Im Bereich der Wohnimmobilien etwa hat sich die Nachfrage schnell erholt und die Preise sind sogar leicht gestie­gen», sagt Füss.

Dies zeige, dass Immobilien im Niedrigzinsumfeld selbst in krisenhaften Zeiten noch als relativ sichere Werte gelten. «Bei eigengenutzten Immobilien ist diese Wertzuschreibung wahrscheinlich stärker subjektiv geprägt. Bei Anlageobjekten hingegen stehen objektivierbare, auch von Algorithmen erstellte Bewertungen im Vordergrund», sagt Füss. 

Für Immobilienbewerter habe die aktuelle Krisenphase unter anderem dazu geführt, dass weniger konsistente Datenreihen zur Verfügung stehen. «Immobilienökonomen und Bewertungsunternehmen ziehen deshalb vermehrt alternative Daten bei. Das können etwa Bewegungsdaten von Handynutzern sein – oder sogar die Entwicklung von Corona-Infektionszahlen, die einen Einfluss darauf haben, als wie attraktiv eine bestimmte Wohn- oder Geschäftslage wahrgenommen wird.»

Lediglich fünf Prozent unserer Entscheidungen fällen wir bewusst. Um psychologische Stolperfallen zu vermeiden, empfiehlt es sich u.a., ­Bewertungsprozesse zu systematisieren und produzierte Schätzungen regelmässig zu überprüfen.
Nur fünf Prozent aller Entscheidungen sind bewusst gefällt

Auch Alain Chaney, Geschäftsführer der Berner Niederlassung von Wüest Partner, sagt, dass die Unsicherheit in der Arbeit von Immobilienbewer­tern zugenommen habe. «Nehmen wir als Beispiel, welche Auswirkungen ein Lockdown auf ein Shoppingcenter hat. Dafür gibt es wenig direkt vergleich­bare Erfahrungswerte.» Die menschliche Reaktion sei, dass bei gesteigerter Ungewissheit und fehlenden Informa­tionen vermehrt auf sogenannte Anker zurückgegriffen werde. Auf diese und andere psychologische Effekte, die Einfluss auf Bewertungen haben kön­nen, geht Chaney auch in einer Vorlesung ein, die er am Center for Urban & Real Estate Management (CUREM) für MAS-Studierende abhält. Chaney sagt, es gebe einerseits objektive Anker, wie beispielsweise abgeschlossene Mieter­träge, Renditen oder Transaktionspreise. «Aber auch der Verkaufspreis, den sich ein Kunde wünscht, kann aufgrund der Funktionsweise des menschlichen Gehirns einen Bewerter unterbewusst beeinflussen.»

Aus der Forschung sei erwiesen, dass Menschen tendenziell Daten beiziehen, die ihre bestehende Sicht bestätigen. Und wer sich in einer Materie gut auskennt, konsultiert bei Entscheidungen tendenziell weniger externe Daten. «Gerade mal fünf Prozent unserer Entscheidungen fällen wir bewusst. Das ist dem Fakt geschuldet, dass der Mensch in seiner Entwicklung gelernt hat, in Gefahrensituationen instinktiv zu reagieren», sagt Chaney. In komplexen Prozessen wieder Immobilienbewertung sei dieser Automatismus aber eher hinderlich. «Die Fallhöhe von Entscheidungen nimmt in Krisen zu. Denn je höher die Unsicherheit ist, des­to stärker sind die Ankereffekte.» Um psychologische Stolperfallen zu vermeiden, empfiehlt Chaney, den Bewertungsprozess zu systematisieren, bewusst objektive Anker einzubauen und die produzierten Schätzungen regelmässig zu überprüfen, etwa mit Transaktionspreisen.

Die Fallhöhe von Entscheidungen nimmt in Krisen zu.

Lage und Zustand werden noch wichtiger

«Den Bewertern fehlen zurzeit gewisse Comparables, sie greifen darum vermehrt auf Anker zurück», sagt auch Stephan Kloess, selbständiger Consultant für Immobilieninvestoren sowie Dozent an der Universität Zürich, dem Institut für Finanzdienstleistungen Zug sowie der TU Berlin. «Als Resultat dieser Entwicklung erwarte ich derzeit tendenziell vorsichtigere, also niedrigere Bewertungen. Dies auch weil zusätzlich die Mietmärkte auf kurze und mittlere Sicht in der Breite nicht mehr derart performen werden wie in den letzten Jahren.»

Immobilien aller Sektoren blieben auf der Kapitalmarktseite  durch die niedrige Zinsstruktur attraktiv. «Vereinfacht gesagt liegt die Attraktivität einer Immobilie als Anlageobjekt mit ihrem Risk-Return-Profil zwischen jener von Obligationen und jener von Aktien», sagt Kloess. Aus psychologischer Sicht gebe eine Immobilie, mit der Begriffe wie Grund, Boden und Substanz verbunden werden, eine vermeintliche Sicherheit. «Der Wert einer Immobilie wird immer durch den Käufer bestätigt und dieser bewertet neben der Substanz den Wert der abgezinsten künftigen Nettoerträge vor dem Hintergrund seines Verzinsungsanspruches und seines Investment Cases für die Immobilie.»

In der aktuellen Krise habe sich die Bedeutung von Lage und Zustand eines Objektes und der Liquidität der Fläche nochmals gesteigert. «Im Bürobereich beispielsweise erwartet der Markt auf Basis der verfügbaren Studien einen mittelfristigen Rückgang von 10 bis 30 Prozent der Fläche. Dies, weil sich Arbeitskonzepte und mit ihnen die Anforderungen an den Arbeitsplatz durch die aktuelle Krise verändern werden», sagt Kloess. «Veraltete Flächen in mittelmässigem Zustand und an peripheren Lagen werden Mühe haben, ihre Werte zu halten.» Es sei aus heutiger Sicht fraglich, ob die Werte aus der Zeit vor der Krise zurückkommen. «Es gab bei Immobilien in der Vergangenheit ’all­time­highs’. Die nun sinkenden Werte eröffnen Chancen für Investoren», sagt Kloess.

  1.  Füss, Roland & Balemi, Nadia & Weigand, Alois: Covid­19’s Impact on Real Estate Markets: Review and Outlook. Erschienen in:
      «Financial Markets and Portfolio Management», März 2021